Faszinierte Abscheu

Claude Lanzmann in Berlin: Dem Regisseur von „Shoah“ gelang bei den Berliner Lektionen eine sehr genaue Darstellung seines Verhältnisses zu den Deutschen

Ein Ereignis, zweifelsohne, dementsprechend übervoll war das Renaissance-Theater. Der Dokumentarfilmer und Les-Temps-Modernes-Herausgeber Claude Lanzmann las am Sonntag im Rahmen der Reihe „Berliner Lektionen“. Er sollte zum Thema „Berlin 1948 bis 2008. Von der Blockade bis zur Wiedervereinigung – Geologie und Genealogie der Hauptstadt“ sprechen.

Erneut erwiesen sich die Berliner als ausgemachte Trampel – obschon Manfred Lahnstein, der die sehr persönlich gehaltene Einführung gab, das Publikum zu Beginn auforderte, die Geräte für die Simultanübersetzung des auf Französisch gehaltenen Vortrags zu prüfen, bemerkten die meisten erst, als Lanzmann sprach, dass sie nichts hörten, und drängelten panisch durch die Reihen zum Ausgang und später wieder zurück. Da offensichtlich zudem kein Soundcheck stattgefunden hatte, gingen die ersten Minuten des Vortrags in „Lauter, lauter!“-Rufen unter.

Aber Claude Lanzmann kennt ja seine Berliner. Er hat Ende der Vierziger einige Jahre in Berlin verbracht. Als Student hatte er in Tübingen gelernt, in Berlin lehrte er dann ab 1948 an der neugegründeten Freien Universität. Lanzmann, der sich schon vorher vom Titel seines Vortrags distanziert hatte – „mich muss der Teufel geritten haben“ –, erzählte beinahe im Plauderton von seinen Erlebnissen im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland, und die Anekdoten über deutsche Fräuleins und furzende Vorgesetzte im Schlafrock ließen oft vergessen, mit welcher Verletzung dieser 83-jährige Widerstandskämpfer noch immer auf Deutschland schaut und mit welcher Begeisterung zugleich – als Teil der Résistance habe er Deutsche erschossen, erzählte er auch. Seine Rede war dennoch sehr genau konstruiert, und erst zum Ende hin schien die Konstruktion aufgelöst, wohl auch, da Lanzmann sein Manuskript während der Rede kürzte.

Lanzmann war trotz seiner Aversion gegen die Deutschen beeindruckt von der deutschen Philosophie, er nannte Kant, Hegel, Fichte und besonders Leibniz, dessen Monaden-Theorie er auch auf sich anwandte. Unteilbar ist, meinte Lanzmann, was man erlebt hat, eine jede Monade bleibt für sich. Gleichwohl versuchte er, seine Eindrücke zu teilen, berichtete von Erlebnissen in den Vierzigerjahren, von jungen Adligen, deren Familien KZs auf ihrem Grund duldeten, und die sich erst im wiedergegründeten Israel engagierten, um später doch „ihr Erbe anzutreten“. Von einem Essen, bei dem ein älterer Wehrmachtsoffizier nur einmal „aus seinem Dämmer“ aufwachte, um mitzuteilen: „Ich hasse die Italiener.“ Und von einem jungen Studenten der FU, der mit Lanzmann Antisemitismusforschung betrieb und Deutschland verachtete, zuvor allerdings in der Waffen-SS gedient hatte.

Lanzmann machte klar, wie sehr er nicht nur von den Deutschen, sondern auch von seinen französischen Vorgesetzten als Jude misstrauisch beäugt wurde und wie sehr er sich als junger Mann um vieles nicht so bekümmerte. Erst bei der langwierigen Fertigstellung seines weltberühmten Films „Shoah“ lernte er auch die „Leerstellen“, etwa das Gelände der heutigen „Topographie des Terrors“, kennen und konnte diese genau bewerten.

Er sei bis heute abgestoßen und fasziniert zugleich von Berlin, er liebe es, zu sehen, wie sich diese Hauptstadt immer wieder erneuere, und fürchte seine Geschichte. Er wisse nicht, warum er bei jedem Besuch den Ort aufsuchen müsse, an dem Rosa Luxemburgs Leiche in den Landwehrkanal geworfen worden sei, sagte er. Lanzmann erwies sich als beneidenswert skeptischer Moralist. Und selbst die eingangs erwähnten Trampel konnten ihm die Standing Ovations am Ende nicht verwehren. JÖRG SUNDERMEIER