Wer den Stein klopft

Ein Kapitel aus der ungeschriebenen Kunstgeschichte der Sonderlinge: Das Bremer Gerhard Marcks-Haus zeigt Künstler, die sich, durchaus heroisch, im 20. Jahrhundert mit Hammer und Meißel dem Stein gestellt haben

von Benno Schirrmeister

Ein bisschen archaisch-pummelig wirkt sie ja, aber das macht sie sympathisch. Außerdem hat sie zweifelsfrei einen schönen Po. Auf griechisch, versteht sich, dann hat das Stil und ist irgendwie kunstgeschichtlich und mythologisch abgesichert: Venus Kallipyge also. Die steht derzeit im Bremer Gerhard Marcks-Haus in der Vitrine, hält sich die Arme schamhaft-kokett vor die Geschlechtsmerkmale und schaut auf das, was sie schön macht: die reduzierten, kompakten Formen, die Gustav Heinrich Wolff 1924 aus einem kleinen Marmor-Block gemeißelt hat, keiner weiß, wovon getrieben. Bis 1914 jedenfalls hatte Wolff ausschließlich gemalt. Nach acht Jahren Kunst-Pause fühlt er sich 1922, plötzlich, zum Bildhauer berufen. Zwölf Jahre meißelt er exquisit anti-antikisierende Göttinnen. Dann, 1934, stirbt er und wird, zu Unrecht, vergessen.

Steineklopfen ist eine klassische Strafarbeit, und das nicht ohne Grund. Anstrengend, staubig, schmerzhaft: Irgendwann sind die Handflächen schwielig, die Sehnen strapaziert und – autsch! Verdammt! – der linke Daumen schwillt. Aber das ist eben das Heroische am Steineklopfen. Zumindest wenn’s um Kunst geht: „Mit handwerklicher Gesinnung und einer Idee“, hat der Bildhauer Werner Stötzer 1975 geschrieben, „kann man sich dem Stein stellen“ – und „ …sich dem Stein stellen“ echot der Titel der neuen Ausstellung im Gerhard Marcks-Haus. Das, 1969 gegründet, zeigt schon lange nicht mehr nur die Werke seines Patrons, dessen Nachlass Anfang der 1980er an die Weser ging. Dort geht man durchaus kritisch mit diesem Erbe um. Und hat aus ihm ein Profil von geradezu klassischer Kontur gemeißelt: Am Wall 208 hat die Plastik der Gegenwart einen festen Ort. Zurecht firmiert man als „das Bildhauermuseum des Nordens“.

Selbstbewusst ist auch der Anspruch der aktuellen Schau: Sie gebe „einen Überblick über die Arbeit am Stein im Deutschland des 20. Jahrhunderts“, so Kuratorin Veronika Wiegartz, „knapp aber repräsentativ“. Knapp – das stimmt schon mal: Gezeigt werden drei Positionen der ersten, drei der zweiten Jahrhunderthälfte. Aber repräsentativ? Da gerät man ins Grübeln: Marcks ist selbstverständlich dabei. Und bei den neueren Arbeiten fehlt auch der große Unaussprechliche nicht: Alfred Hrdlicka hat seinen eigenen Saal. In dem hängt, kopflos-kopfüber, ein Marsyas, daneben liegt ein brachial verstümmelter Samson: Extrem klassisch sind die Figuren angelegt. Dann greift der Österreicher zur Flex und macht sie fertig. Manche Arbeiten würden ihm, so geht die Legende, entzogen, damit er sie nicht pulverisiere. Die anderen Namen aber – das sind doch alles Unbekannte. Michael Schoenholtz, den hat man vielleicht schon mal gehört, weil der Berliner an einem Großauftrag in der Dresdner Frauenkirche werkelt. Joachim Utech jedoch? Oder Werner Stötzer? Oder, wie gesagt, Gustav Heinrich Wolff? Aber, Gegenfrage: Wen gäbe es sonst?

„Die Steinbildhauerei fristet heute ein absolutes Nischendasein“, so Wiegartz. Anfang der 1920er Jahre kam das Material zwar international wieder in Mode. Aber das war wohl auch ein Reflex auf die damals enthüllte skandalöse Praxis des 19. Jahrhunderts: Dass Auguste Rodin seinen Marmor in Handwerks-Fachbetrieben klopfen ließ, fand die heroisch gestimmte Zeit sehr schlimm. Also griffen Avantgarde-Künstler wie Henry Moore oder Constantin Brancusi weltweit zum Meißel, schlugen sich auf die Finger – und legten das Material wieder beiseite. Die Treue bewahrt haben ihm hingegen Außenseiter wie Utech: Einer privaten Schweiß- und Findlings-Ideologie folgend, schlägt er, 1889 geboren, bis zu seinem Tode 1960 Figuren in Pommerschen Granit – so wie sie vom Stein vorgegeben scheinen. „...sich dem Stein stellen“ – das ist eine Ausstellung der Entdeckungen: Ein spannendes Kapitel aus der ungeschriebenen Kunstgeschichte der Sonderlinge.

„...sich dem Stein stellen“, Gerhard Marcks-Haus, Bremen. Di–So 10–18 Uhr; bis 15. 8. Katalog 20 Euro