Geh, aber fix, sonst hol ich die Polizei

Wenn der Karneval vorbei ist, erinnert nur noch der Uringeruch daran, dass Menschen keine Kaninchen sind

Was im Alltag überflüssig ist, wie das Jonglieren, wird im Karneval profitabel

Als der Karneval der Kulturen wieder weg war, war es plötzlich superstill am Abend. Ich saß ohne Licht im Zimmer. Ab und an nur riefen versehentliche Anrufer an und bedauerten ihr Versehen. Im Fernsehen sagte ein absurder Lohnsklave im Anzug, „der Ertragswinkel muss stimmen für den Erfolg“, die hübsche Frau im Auto sagte: „Eigentlich sind wir alle Kaninchen“, und der finnische Rennfahrer stimmte zu.

Die Vorstellung, dass wir alle in Wirklichkeit, im Herzen, in einem besseren Paralleluniversum Kaninchen sind, ist unmittelbar einleuchtend. Vielleicht weil Karneval gewesen war und es im Karneval ja eigentlich um eine Umwertung der Werte geht – was oben ist, muss runter, was unten ist, muss rauf, und Kreuzberger Fertigkeiten, die im Alltag eher überflüssig sind, wie das Jonglieren, werden im Karneval plötzlich profitabel – verfiel ich wieder in diese schlechte Angewohnheit, mir alle Wörter und Sätze rückwärts gesprochen vorzustellen, sodass Kaninchen also nehcninak heißen würde.

Wie genau man das aussprechen müsste, damit es aufgenommen und andersrum abgespielt wieder wie Kaninchen klänge, weiß ich aber immer noch nicht und dilettiere in Vermutungen. Wenn man wüsste, wie alles andersrum ist, würde man vermutlich wahnsinnig werden, weil jeder Satz, den man denkt oder liest, auf der Stelle im Kopf zerschreddert werden würde. Manche Wörter, die auf dem Tisch herumliegen, klingen auch schon so absurd. Die Ikea-Süßigkeit „Punschrulle“, eine giftgrüne „gefüllte Marzipanrolle mit kakaohaltiger Fettglasur“ zum Beispiel.

Am Nachmittag saßen wir in der „Pagode“. Das thailändische Restaurant ist assoziiert mit dem japanischen nebenan und war auch mit einem Wagen beim Karneval der Kulturen vertreten. Der Restaurantmitarbeiter Duc-Hahn Bui beklagte bitter den Ausfall der Love Parade und sagte, ich solle darüber unbedingt etwas in der Zeitung schreiben. Ein Langhaariger, der wohl vom Karneval übrig geblieben war, ging vorbei. Er trug ein lustiges Jägermeisterhütchen, dazu Jeansjacke und geblümte Boxershorts. Spätabends rief einer laut und böse, weil ein anderer auf der Straße nach elf geredet hatte: „Geh, aber fix, sonst hol ich die Polizei.“

Und dann wäre unser Haus auch noch beinahe in die Luft geflogen. Es hatte nach Gas gerochen, zuerst ein bisschen nur, dann immer stärker. Ein Notdienst kam, der Hausbesitzer sah ganz blass aus, und es war wieder nichts mehr mit Duschen und Espresso am Vormittag. Draußen waren die Kreuzberger Straßen wieder menschenleer. Nur der leichte Uringeruch an den Bauminseln erinnerte daran, dass hier mal Menschen gewesen waren. Pissnelke, auch ein schönes Wort. DETLEF KUHLBRODT