Heiße Drähte in der Mithörzentrale

Die Zahl der Telefonüberwachungen hat stark zugenommen. 2002 lauschten die Ermittler nur bei 121 Verfahren, im vergangenen Jahr schon bei 206. FDP beklagt, dass dadurch auch zehntausende Unbescholtene abgehört werden

In Berlin steigt die Zahl der polizeilichen Telefonüberwachungen (TÜ) seit Jahren kontinuierlich an. Waren es 1996 noch 76 Ermittlungsverfahren mit insgesamt 160 so genannten Anschlussinhabern, so stieg die Zahl letztes Jahr auf 206 Ermittlungsverfahren mit 584 „Anschlussinhabern“. Dies geht aus einem Bericht der Justizverwaltung hervor, der im parlamentarischen Datenschutzausschuss präsentiert wurde und der taz vorliegt.

Wie viele Personen dabei tatsächlich abgehört wurden, lässt sich aber nicht sagen, denn diese Zahlen werden nicht erhoben. Der FDP-Abgeordnete Alexander Ritzmann, auf dessen Initiative der Bericht erstellt wurde, rechnet für jeden überwachten Anschluss mit rund 100 weiteren Personen, deren Gespräche abgehört wurden. Laut Ritzmann wären 2003 also etwa 55.000 „unbescholtene Berliner“ abgehört worden. Die Zahl erscheint indes zu hoch gegriffen. In Fachkreisen gilt als allgemeine Faustregel, dass auf jeden Abgehörten etwa 20 weitere Personen kommen. Auch das wären noch knapp 12.000 Menschen. 2002 waren nur ca. 7.100 Telefonbenutzer von 121 Verfahren bei 355 „Anschlussinhaber“ betroffen.

In der Mehrzahl wird eine Überwachung in Berlin wegen des Verdachts von Drogenhandel angeordnet, gefolgt von Raub und räuberischer Erpressung, Hehlerei und Bandendiebstahl. Terrorismusverdacht spielt hingegen keine Rolle.

Die Zunahme der Lauschmaßnahmen eruht nach Einschätzung des Generalstaatsanwalts beim Landgericht darauf, dass die Polizei Ende 2003 eine neue Abhörtechnik eingeführt hat und die frühere Abhängigkeit von zu wenig Abhörplätzen nicht mehr besteht. Justizstaatssekretär Christoph Flügge sieht Berlin trotz der enormen Steigerung aber immer noch deutlich hinter anderen Großstädten wie München, Frankfurt am Main oder Hamburg.

Aufgrund der FDP-Initiative hat die Berliner Justizverwaltung Anfang 2004 nun bei den Gerichten ein Formblatt eingeführt, auf dem eine TÜ und deren Dauer vermerkt werden muss. Damit beschreitet Berlin einen gänzlich neuen Weg, Vergleichbares gibt es bisher bundesweit nicht. Nach einem einstimmigen Beschluss des Datenschutzausschusses erhält das Parlament künftig zudem einen jährlichen Bericht über die Abhöraktionen in Berlin.

Nach ihrem Erfolg sieht sich die FDP nun als Gralshüter der Bürgerrechte. Zwar sei die Telefonüberwachung „ein wichtiges Mittel zur Bekämpfung von Schwerkriminalität“, erklärte ihr innenpolitischer Sprecher Ritzmann, einer „Tendenz zur uferlosen Telefonüberwachung“ werde seine Partei allerdings „entgegentreten“.

Unzufrieden ist Ritzmann vor allem mit der Umsetzung der gesetzlichen Benachrichtigungspflicht der Betroffenen nach Abschluss einer Mithöraktion. Diese Information geschieht nach seiner Kenntnis nur bei rund einem Drittel der Betroffenen. Weitere bundesrechtliche Schritte „zur richterlichen Kontrolle und der Benachrichtigungspflicht“ müssten daher folgen. Insbesondere in diesen Bereichen hatten zwei wissenschaftliche Gutachten im letzten Jahr erhebliche Defizite festgestellt.

OTTO DIEDERICHS