in fußballland
: Titelgewinne sind keine Endpunkte

CHRISTOPH BIERMANN über gerissene Muskelfasern und die fußballerische Flüchtigkeit des siegestrunkenen Augenblicks

Christoph Biermann, 43, liebt Fußball und schreibt darüber

Gestern Abend habe ich erfahren, dass man auswärts eher lacht. Die Lektüre einer gelungenen Pointe sorgt, das ist angeblich wissenschaftlich abgesichert, in der Straßenbahn oder im Zug für einen lauten Lacher, während der Heimleser an der gleichen Stelle bestenfalls stumm in sich hineinschmunzelt. „Home reading is killing laughter“, muss ich also warnen und werde bis zur genaueren Klärung des Problems erst einmal nachdenkliche Texte schreiben. Etwa über Muskelfaserrisse.

Das Thema recherchiere ich nämlich gerade in meiner linken Wade. Muskelfaserrisse gelten heutzutage unter Fußballfans zwar als langweilige Bagatellverletzungen, dafür tun sie aber erstaunlich weh und zwingen einen auf Krücken. Dass man schon zwei Wochen danach wieder auf dem Platz steht, scheint auch nur im Paralleluniversum des Profifußballs vorzukommen. Mein Orthopäde begrüßte mich dennoch acht Tage nachdem ich mich schmerzklagend ins Seitenaus gerobbt hatte, mit den Worten: „Wie, besser geht’s noch nicht?“ In seiner Praxis hängen Trikots von berühmten Spielern, die sich für die tolle Behandlung bedanken und dass sie so schnell gesund geworden sind.

Ich hingegen führe derzeit das ruhige Leben einer Couch-Kartoffel, was zwar nicht schön ist, aber zweifellos einen tieferen Sinn hat. Klaus Theweleit hat eine schöne Theorie seines „denkenden Knies“ entwickelt, dessen Verletzungen er entscheidende Wenden seines Lebens verdankt. Ich frage mich nun, was sich meine Wade für mich ausgedacht hat. Krankheit ist immer auch Chance, und meine liegt vielleicht darin, über das Wesen der Freude im Leben der Fußballfans nachzudenken. Hilfreich dabei ist vor allem mein Freund Günther, der aus dem Freuen eigentlich gar nicht mehr herauskommt, denn er ist seit fast vier Jahrzehnten Anhänger von Werder Bremen. Da der Klub das erfolgreichste Jahr seiner Vereinsgeschichte hat, gilt das auch für Günther.

Weil er jedoch eben schon so lange dabei ist, weiß Günther längst, dass nach dem Sieg stets vor der Niederlage ist. Das lehrt Demut, Weitsicht und selbst im Fall des Double-Gewinns von Meisterschaft und Pokal die Contenance zu bewahren. Nun ist auch er zuletzt selig umflort durchs Leben geschritten, aber schon vom Cup-Finale kam er mit der Formulierung „gebauter Jubel“ zurück. Das sollte zum Ausdruck bringen, dass die behauptet überschwängliche Freude gar keine gewesen wäre, sondern eine derart konstruierte, dass man sich angesichts des Doubles ganz toll freuen muss, obwohl der Pokal gegen einen Zweitligisten doch eher „abgeholt“ wurde, wie Günther sich ausdrückte.

Angesichts des Meisterschaftsgewinns hatte Günther zudem die These entwickelt, er würde Werder Bremen zunehmend „spielorientiert“ und immer weniger „tabellenorientiert“ sehen. Es macht ihn also nicht der Tabellenstand froh, sondern das gute Spiel seines Teams – und zwar jedes für sich. Entscheidend sind für ihn die neunzig Minuten im Stadion, die Tabelle sei dafür nur eine abstrakte Überformung, die das einzelne Spielerlebnis nur unzureichend ausdrückt. Schließlich gibt es auch für einen Sieg nach höchst unbefriedigendem Kick nicht weniger als drei Punkte. Viele gute Partien, und die gab es bei Werder Bremen in der abgelaufenen Saison zuhauf, führen andererseits trotzdem an die Tabellenspitze. Aber letztlich sind auch Titelgewinne keine Endpunkte, sagt Günther. Zwar behaupten sie, dass für einen Moment die Zeit anhält, in dem gesagt wird, dass nun Geschichte geschrieben wird, aber selbstverständlich geht die Zeit weiter, und damit muss man sich als Fußballfan zu arrangieren lernen.

Das klingt zugleich weltweise und ein wenig traurig, beinhaltet aber auch das tröstliche Wissen, dass Muskelfasern wieder zusammenwachsen, man sich vom Sofa erheben und die Leser endlich wieder energisch vor die Tür scheuchen kann.

Von Christoph Biermann ist ein Buch mit seinen taz-Kolumnen erschienen: „Meine Tage als Spitzenreiter. Letzte Wahrheiten über Fußball“, Verlag Die Werkstatt. 9,90 €