„Das ist die Sprache der großen Lüge“, sagt Adam Michnik

Erika Steinbach stilisiert die Vertriebenen zu den wahren Opfern – und vergiftet die deutsch-polnischen Beziehungen

taz: Herr Michnik, Sie haben kürzlich in einem „Die Sklerose der Deutschen“ betitelten Kommentar den Deutschen Geschichtsvergessenheit vorgeworfen. Warum?

Adam Michnik: Ich beschuldige natürlich nicht alle Deutschen. Wahr ist aber, dass viele Deutsche vergessen haben, was der Zweite Weltkrieg und seine Folgen waren. In Deutschland findet zur Zeit eine gefährliche Sinnverkehrung der Geschichte statt.

Inwiefern?

Ich wohne in Warschau, einer Stadt, die von den Deutschen total gesprengt wurde. Die Erinnerung an meine Kindheit – das sind Trümmer, Trümmer, Trümmer. Ich erwarte heute von keinem Deutschen, dass er sich dafür entschuldigt, dass ich in Trümmern groß geworden bin. Ich erwarte nicht einmal, dass mich ein Deutscher dafür um Entschuldigung bittet, dass fast meine ganze 100-köpfige Familie im Holocaust umgekommen ist. Ich denke, dass die Zeit der Aufrechnungen vorbei sein sollte. Ich teile den Standpunkt der polnischen Bischöfe, die schon 1965 gesagt haben: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“ Aber manche Deutsche, wie die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, kehren den Sinn der Geschichte um. Der Sinn ist demnach, dass ich Steinbach dafür um Entschuldigung bitten soll, dass sie die polnische Stadt Rumia verlassen musste, wo ihr Vater den Nazibesatzern Polens diente. Vielleicht sollten sich auch die Russen noch bei Steinbach entschuldigen, dass sie die Hitlerarmee bei Stalingrad besiegt haben. Oder die USA für die Invasion in der Normandie. Das ist die völlige Verkehrung des Zweiten Weltkriegs.

Steinbach wird von der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel unterstützt – und auch von Edmund Stoiber.

Das schmerzt mich sehr. Dass die beiden sich in so unüberlegter und inkompetenter Weise hinter Steinbach stellen, vergiftet die deutsch-tschechische und deutsch-polnische Atmosphäre.

Steinbach fordert von den Polen, Tschechen und Russen, dass sie die „Wunden der deutschen Vertriebenen heilen“. Sie sollten das Recht der Deutschen zur Rückkehr in die Heimat und auf Entschädigung anerkennen. Also stehen die Polen in der Schuld der Deutschen?

Solche Äußerungen haben in Polen große Empörung ausgelöst. Wie ist das möglich, dass nach so vielen Jahren, nach eindeutigen Erklärungen, die wir etwa von Helmut Kohl gehört haben, nun Ministerpräsident Stoiber dem tschechischen und dem polnischen Staat diktieren will, welche Gesetze wir abzuschaffen haben. Das ist einfach unfassbar.

In der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ heißt es: „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung.“

Das ist ein totales Missverständnis. Sicher waren unter den Vertriebenen auch Gegner von Hitlers Vernichtungspolitik. Ihnen ist nach dem Krieg Leid und Unrecht geschehen. Es ist aber völlig klar, dass in solch einer Charta vor allem von der deutschen Schuld die Rede sein müsste, nicht vom eigenen Leid.

In einem weiteren Schlüsselsatz heißt es: „Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit schwersten Betroffenen empfinden.“

Das ist die Sprache der großen Lüge.

Das geplante Zentrum gegen Vertreibungen soll aber gerade der Versöhnung dienen.

Die Vertreibung war ein Unglück, das der Krieg mit sich gebracht hat, den das Dritte Reich entfesselt hat. Aber warum meinen die deutschen Vertriebenen, dass die Vertreibungen schlimmer waren als die Massenmorde und die Zerstörung unbewaffneter Städte durch die Hitlerarmee? Warum schlägt Steinbach kein Zentrum aller Opfer des Nationalsozialismus vor, eine Art Bollwerk gegen den Totalitarismus? Dort könnte die Vertreibung im richtigen Kontext gezeigt werden.

Wie sollen die deutschen Vertriebenen an ihr Leid erinnern?

Sie sollen vor allem erinnern, wem sie ihr Schicksal verdanken – nicht den Polen, Russen, Engländern oder Amerikanern, sondern Hitler, Hitler und noch mal Hitler. Erika Steinbach fordert von uns Polen, dass wir endlich unsere Schuld gegenüber den Deutschen anerkennen. Das ist so, als würde man von den Juden eine Entschuldigung dafür fordern, dass sie die Nazis so geärgert hätten, dass diesen keine andere Wahl blieb, als die Juden zu ermorden. Wo sind eigentlich die Grenzen des Absurden? Niemand hat so viel zur Zerstörung des Bildes der Deutschen im Ausland beigetragen wie Erika Steinbach. Die deutsche Öffentlichkeit sollte das endlich verstehen.

Gab es nicht auch in Polen hysterische Reaktionen auf das Zentrum gegen Vertreibungen?

Ja, es gab hysterische Reaktionen, auch skandalöse, wie das Titelbild des Magazins Wprost. Ich habe das mit großer Beschämung gesehen. Wir haben es in der Gazeta Wyborcza scharf kritisiert. Aber es gab auch ruhige, rationale Reaktionen, etwa die Essays von Leszek Kolakowski, Bronislaw Geremek und Wladyslaw Bartoszewski und auch meinen offenen Brief an Joschka Fischer. Hysterie ist nie ein guter Ratgeber. Auch in Polen gibt es Leute wie Erika Steinbach. Sie beginnen nun damit, die Kriegsverluste aufzurechnen. Der deutsche Staat soll Kriegsreparationen für die polnischen Verluste zahlen. Für die Vernichtung Warschaus. Diese ganze Zählerei ist absurd. Auch das kann sich Steinbach nun gutschreiben.

INTERVIEW: GABRIELE LESSER