piwik no script img

Erweiterte Mutlosigkeit

Europa vor den Wahlen: An beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze ist die Begeisterung für die EU gering – weil es der Union an Selbstvertrauen mangelt

Wieso sollten Polen nach Ostdeutschland gehen und dort nach Jobs suchen, die es dort nicht gibt?

Die kommenden Europawahlen sind ein besonderes Ereignis. Erstmals dürfen auch die Menschen in den neuen Mitgliedsländern an europaweiten Wahlen teilnehmen. Damit ist der Kontinent zumindest für einen Wahltag lang wirklich vereint. Doch eine Euphorie will sich gerade in Mitteleuropa nicht einstellen. Im Gegenteil, auf beiden Seiten der Oder herrscht Angst – vor den Nachbarn und vor der Zukunft. Vielleicht waren es die zuletzt immer häufiger genannten Schlagwörter von der Wiedervereinigung Europas, die das Misstrauen wecken. Wiedervereinigung – das klingt für die Menschen nahe der deutschen Ostgrenze auch nach Massenarbeitslosigkeit und Unsicherheit.

Doch auch für die Polen wird die Vereinigung Europas, dieses von den eigenen Intellektuellen europaweit ins Spiel gebrachte Schlagwort, vielleicht bald einen bitteren Beigeschmack bekommen. Zwar wurden von Brüssel hohe Hilfeleistungen zugesagt, von denen angesichts des Defizits im Staatshaushalt das fiskalische Überleben Polens abhängt. Aber niemand weiß, ob die Transferleistungen auch ankommen. Viele EU-Programme hängen davon ab, dass sich die nationalen und regionalen Verwaltungen im Brüsseler Paragrafendschungel auskennen. Bei zahlreichen Maßnahmen ist außerdem eine Kofinanzierung Voraussetzung. Es ist nicht klar, ob auf der polnischen Seite Kompetenz und Geld ausreichen, um die EU-Mittel in Anspruch nehmen zu können.

Obendrein bekommen polnische Landwirte nur 25 Prozent der Subventionen ihrer Kollegen in den alten EU-Staaten. Dies wird den polnischen Bauern zwar deutlich mehr Einnahmen als bisher bringen, aber dennoch nur den wenigsten von ihnen das Überleben ermöglichen. Die niedrigere Quote war der Preis dafür, vor allem auf Druck Frankreichs die alte Subventionswirtschaft beibehalten zu können. Die Vereinigung Europas leidet damit an einem ähnlichen Problem wie die deutsche Wiedervereinigung. Die Regierungen im Westen geben ihrer Bevölkerung ein Gefühl, als könne alles weitergehen wie bisher, während sich die Länder im Osten an nicht mehr haltbare Systeme anpassen müssen.

In Polen bleibt daher ein Gefühl der Benachteiligung und Geringschätzung. Das weiß die Partei des populistischen Bauernführers Andrzej Lepper für sich zu nutzen. Der Name der Partei lautet übersetzt „Selbstverteidigung“ (Samoobrona). Damit wird direkt auf ein Gefühl der Bedrohung durch einen wirtschaftlich überlegenen Westen angespielt. Und in der Tat regiert vor allem unter der polnischen Landbevölkerung die Angst, dass sie bald das Arbeitslosenheer von drei Millionen Menschen oder knapp 20 Prozent der Gesamtbevölkerung verstärken wird. Bei der Abstimmung über den EU-Beitritt in Polen unterlag die Selbstverteidigung noch, weil klar war, dass keine Alternative zum Beitritt bestand. Doch seit dem 1. Mai hat die Partei Leppers in den Umfragen mit 26 Prozent sogar die stärkste bürgerliche Partei überholt. Man muss sich also in Brüssel und Warschau darauf einstellen, dass dort eine europafeindliche Partei eine wesentliche Rolle spielen wird. Wasser auf deren Mühlen ist die Einschränkung der Freizügigkeit: Bürger aus den Beitrittsstaaten dürfen in Deutschland voraussichtlich sieben Jahre weder arbeiten noch wohnen. Polen und die anderen Ostmitteleuropäer sind also de facto keine gleichberechtigten EU-Bürger.

Psychologisch ist die Lage für die deutschen Anwohner an der Grenze nicht besser: Sie haben dank der Fristenregelung weitere sieben Jahre Zeit, um ihre Arbeitsplätze zu fürchten. Das ist unsinnig, denn wieso sollten Menschen aus dem verarmten Ostpolen ohne Sprachkenntnisse nach Ostdeutschland gehen und dort nach Jobs suchen, die es dort nicht gibt? Wenn überhaupt, dann werden diese Zuwanderer in Bayern oder Baden-Württemberg ankommen. Im Moment hat die Fristenregelung jedoch in Grenznähe die Folge, dass Städte wie Frankfurt (Oder) ihre leer stehenden Plattenbauten nicht an Polen vermieten können, obwohl auf der anderen Seite der Grenze große Wohnungsnot herrscht und es genug gut verdienende Interessenten gibt.

Einer der Urheber der Fristenregelung in den Verträgen mit den Beitrittsländern war die rotgrüne Regierung. Sie lag damit auf einer Linie mit Schwarz-Blau in Österreich. Das Motiv dieser erstaunlichen Übereinstimmung war wiederum die vermutete Angst der Westeuropäer vor einer „Arbeitskräfteschwemme“ aus dem Osten. Wirklich beängstigend war aber der Umgang mit dieser Angst. Vor allem 2000 und 2001 überboten sich Gewerkschafter und Regierungsmitglieder mit einer Hochwassermetaphorik. Da war noch mitten während einer Hochkonjunktur von geöffneten Schleusen, brechenden Dämmen und einer folglich notwendigen Eindämmung der Zuwanderung aus dem Osten die Rede. Inzwischen spielt vor allem die Linke ständig mit dem Begriff der Billigkonkurrenz, der hierzulande längst nicht mehr nur auf Waren, sondern auch auf Menschen angewandt wird.

Die Regierungen im Westen geben ihrer Bevölkerung das Gefühl, alles könne bleiben wie bisher

In Polen wird all dies genau wahrgenommen. Die polnischen Medien unterhalten in Deutschland ein dichtes Netz an Korrespondenten, die auch die Rede von DGB-Chef Michael Sommer übertrugen, der sich am Tag der EU-Erweiterung am 1. Mai skeptisch über deren Folgen äußerte. Noch wichtiger ist die direkte Übertragung der Stimmung in der Bundesrepublik durch die vielen Putzfrauen, Schneiderinnen und Saisonkräfte, die ungeachtet der Erweiterung schon längst in Deutschland sind. Sie spüren genau, dass man gern ihre günstigen Dienste in Anspruch nimmt, sie aber auf die Dauer nicht willkommen sind. Selbst wenn sie für ihre Verhältnisse gut verdienen, bleibt bei ihnen oft ein Gefühl, ausgenutzt zu werden. Ihr Alltag wirkt zwar auf den ersten Blick europäisch, schafft aber kein Vertrauen in Europa, und es ist nicht verwunderlich, dass Ängste und Misstrauen auch auf die höchste Ebene der Politik einwirken.

Daher stößt auch die geplante EU-Verfassung bei vielen Polen auf Skepsis. Eigentlich geht es in der Verfassung nur um die Festlegung einiger Grundrechte der EU-Bürger und der wichtigsten Mechanismen, um die erweiterte EU funktionsfähig zu halten. Doch derzeit fehlt in Polen das Vertrauen in dieses Europa. Man befürchtet, über den Tisch gezogen zu werden, bei der doppelten Mehrheit an Einfluss zu verlieren und überhaupt zu viel an nationaler Souveränität aufzugeben. Vertrauen wird erst durch alltägliche Erfahrungen entstehen, indem die EU-Mittel tatsächlich fließen, man in Brüssel Gehör findet und mehr gleichberechtigte zwischenmenschliche Kontakte entstehen. Eine vertrauensbildende Maßnahme wäre auch, dass Deutschland und Österreich so schnell wie möglich die Fristenregelung auf dem Arbeitsmarkt aufheben. Nach zwei Jahren wäre dies erstmals möglich und damit ein weiterer Schritt zu einem vereinten Europa getan. Die Chance, mit der Erweiterung Verkrustungen im Westen zu lösen, hat die EU schon vertan. PHILIPP THER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen