sehnsucht, argentinisch von ILKE S. PRICK
:

„Bring doch mal wieder Spannung in dein Leben“, sagt Sylvia und lächelt vielsagend. „Spannung?“ Was soll das nun wieder? „Na, Tango!“, seufzt sie. Allein bei dem Gedanken spüre ich Spannung genug, genau zwischen dem dritten und vierten Lendenwirbel. Sie findet mich kleinlich. „Es ist Leidenschaft, verstehst du?“ Ja, natürlich. Das war Flamenco auch. Ich erinnere mich gut an meine Hühneraugen in diesen Klapperschuhen. Und an die Seminare in derselben Zeit: „Wenn Frauen zu sehr lieben“. Danach kam die Selbstfindung mit dem Bauchtanz und die Suche nach der weiblichen Mitte. Auch das war Leidenschaft. Im Becken, ganz tief drinnen, irgendwo zwischen Gebärmutterhals und dem sagenumwobenen G-Punkt. Und dann kreisen. Ich erinnere mich. An das Leiden zwischen Wirbel drei und vier. Nun ist es also Tango.

„Dich führen lassen, weißt du. Das hat was.“ Großer Augenaufschlag. Ja, aber was? Hatten wir da nicht vor Jahren dieses Plakat in unserer gemeinsamen Küche: Der Kampf gegen den Staat ist immer auch der Kampf gegen das Patriarchat? Haben wir nicht im Angesicht dessen tonnenweise Müsli gemampft? Biodynamisch? Bedeutet das denn gar nichts mehr? Und jetzt soll ich mich führen lassen? „Hingabe!“ Sylvia seufzt schon wieder und sieht mich sehnsüchtig an. Hingabe. Ich weiß, was sie meint.

Auch ich habe mir das mit dem Tango schon mal angeschaut. Ein Vergnügen war das nicht. Ein fremder Oberschenkel, der sich ungefragt und ohne Vorwarnung zwischen meine Beine quetscht in der Hoffnung, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Im richtigen Leben hätte ich ihm das Standbein weggesemmelt und die große Außensichel eingesetzt. O soto gari anstatt Bandoneon sentimentale. Hingabe, dass ich nicht lache.

Im Selbstbehauptungskurs haben wir gelernt, dass so was „Übergriff“ heißt und, wupps, hätte der Typ meine Handtasche auf der Rübe und mein Knie im Schritt. Ich kann nichts für meine Reflexe. Und jetzt soll ich mich freiwillig aufs Parkett werfen in der Hoffnung, dass ein wenig vertrauenswürdiger Mensch, den ich im richtigen Leben niemals näher als zehn Meter an mich herangelassen hätte, so viel Anstand besitzt, all meine Kilos kurz vorm Boden doch noch aufzufangen? Ohne mich! Gutgläubigkeit nenne ich das.

„Wir sind eine kleine eingeschworene Gemeinde, echt nett!“ Das sagt auch der Ku-Klux-Klan. Ich bin nicht in die Stadt gezogen, um wieder in einer kleinen Gemeinde zu landen. Es ist nicht so, dass ich mich partout gegen Paartanz wehre, wirklich nicht. Ich habe das selbst mal praktiziert. Vor Jahren hatte ich da meine große Chance. Fünfzig Milchkühe hätte ich heiraten können. Wie gesagt, eine richtig kleine Gemeinde. Noch heute spüre ich die feuchte Hand auf meinem Rücken bei der Polonaise zum kalten Büfett.

„Und im nächsten Urlaub fahre ich nach Buenos Aires!“ Sylvia seufzt diesmal, als wäre sie schon auf einem spanischen Emigrantenschiff kurz vor den Kapverdischen Inseln. Hingabe. Wenn’s denn sein muss. Kühe gibt’s ja auch in Argentinien.