Pflege, das Stiefkind der Sozialpolitik

Arbeiterwohlfahrt verlangt, Pflegeversicherung grundsätzlich zu reformieren. Aber die Regierung scheut das Thema

BERLIN taz ■ Nur weil die Pflegeversicherung in der Öffentlichkeit nicht beachtet werde, könne es sich die Regierung leisten, den bedrückenden Zustand und die noch bedrückendere Zukunft der Pflegeversorgung zu ignorieren, erklärte gestern die Arbeiterwohlfahrt (AWO). „Das Thema Pflege wird nur reduziert auf die Kosten wahrgenommen“, beklagte der AWO-Bundesvorsitzende Manfred Ragati und verlangte, „erst über die Inhalte, dann über die Beitragssätze zu diskutieren“.

Angesichts eines rasanten Anstiegs der Zahl der Pflegebedürftigen und dem Trend weg von der familialen, hin zur professionellen Pflege müsse die Politik mehr leisten als sich bloß auf den Beitragssatz von derzeit 1,7 Prozent vom Bruttoeinkommen zu fixieren. Gegenwärtig gelten 2 Millionen Menschen als pflegebedürftig, bis 2020 sollen es 700.000 mehr sein. In etwa der Hälfte der Fälle pflegen die Angehörigen, meist Frauen. Doch deren Zahl sinkt – und wird weiter sinken, wenn mehr Frauen berufstätig sind.

In ihrem Sozialbericht „Zukunft der Pflege in Deutschland“ schlagen die AWO und angeheuerte Pflegeexperten vor, den Begriff der Pflegebedürftigkeit zu erweitern. Altersverwirrtheit wird in der Pflegeversicherung bislang nicht berücksichtigt und ist auch in der Leistungszuteilung nach Minuten nicht erfassbar. Schätzungen gehen von derzeit rund 1 Million Demenzerkrankter aus, bis zum Jahr 2020 sollen es rund 1,4 Millionen sein.

Außerdem beklagt die AWO, deren Einrichtungen 80.000 Pflegebedürftige betreuen, die unverhältnismäßige Bürokratie im System, die mittlerweile mehr als ein Drittel der Arbeitszeit Pflegender beanspruche. Zu viele ausgebildete Pflegekräfte flüchteten nach wenigen Jahren wegen Stress und mangels Anerkennung aus dem Job.

Was die Finanzierung der Wünsche anging, hielt sich die AWO bedeckt, forderte jedoch eine Bürgerversicherung auch für die Pflege: Die Beitragsbemessungsgrenze sei anzuheben, Kapitaleinkünfte müssten verbeitragt werden. Eine Anhebung des Beitragssatzes dürfe kein Tabu sein. Die Absicht der Bundesregierung, dieses Jahr nur ein Verfassungsgerichtsurteil umzusetzen und Kinderlose stärker zu belasten, kritisierte AWO-Chef Rugati als „kurzatmig“.

Das Sozialministerium unter Ulla Schmidt (SPD) kann sich derweil noch nicht einmal entschließen, wenigstens das Gesetz zur Umsetzung des Urteils vorzustellen. Der Termin „vor der Sommerpause“ wurde gestern nicht mehr bestätigt. UWI