Alle lieben Smarty Jones

Ein Rennpferd ohne edlen Stammbaum, das einem Autohändler gehört und von einem abgehalferten Jockey geritten wird, steht vor dem sensationellen Gewinn der Triple Crown

AUS NEW YORK SEBASTIAN MOLL

Irgendwie passt Roy Chapman nicht so recht dazu. Auf der Haupttribüne der Churchill Downs tummeln sich Millionäre und Milliardäre, Ölprinzen aus Saudi-Arabien und Hollywood-Produzenten im Frack mit ihren Frauen, die versuchen sich gegenseitig durch die Extravaganz ihrer Hutmode auszustechen. Den 78 Jahre alten Autohändler Roy Chapman haben hingegen Zigaretten und Alkohol an den Rollstuhl und an eine Sauerstoffflasche gefesselt und die vornehme Gesellschaft des Kentucky Derby ist über seine Präsenz in ihrer Mitte leicht, aber deutlich peinlich berührt.

Und dann das. Nach den „zwei spannendsten Minuten im amerikanischen Sport“ wird Chapman von seinem Sohn in die Rennbahnmitte herausgerollt – dort, wo sich die Masse der 40-Dollar-Ticket-Inhaber mit dünnem Bier und lautem Gegröle amüsiert. Chapmans Pferd mit dem plebejischen Namen Smarty Jones hat das Derby gewonnen und nun hievt sich sein schwächelnder Besitzer aus seinem Rollstuhl, um den Scheck über knapp sechs Millionen Dollar entgegenzunehmen. Die lärmenden Fans um ihn herum jubeln, als wären sie bei der Super Bowl – auf der Tribüne wird unterdessen höflich, aber merklich zurückhaltend geklatscht.

Nur zwei Wochen später muss die vornehme Pferdesport-Welt dieselbe Schmach noch einmal erdulden. Smarty Jones – ein Pferd ohne edlen Kentucky-Stammbaum – unter Stewart Elliot, einem Reiter, der beinahe wegen versuchten Totschlags im Gefängnis gelandet wäre, im Besitz eines neureichen Autohändlers aus Philadelphia, gewinnt auch noch das Preakness in Baltimore mit unglaublichen elfeinhalb Längen Vorsprung. Das Preakness ist das zweite der großen drei Rennen – der so genannten Triple Crown, dem Grand Slam im amerikanischen Pferdesport. Und nun zweifelt kaum mehr jemand daran, dass Smarty morgen auch in Belmont auf Long Island gewinnt und somit das erste Pferd seit 1978 wird, das den Hattrick schafft.

Die Geschichte bewegt Amerika. Trotz der Finals in den Publikumssportarten Basketball und Eishockey sind die Belmont Stakes an diesem Wochenende das Sportereignis Nummer eins. Jeder will Smarty gewinnen sehen. Denn Smarty Jones ist die Geschichte eines amerikanischen Traums, der Beweis, dass jeder es schaffen kann, und der Beleg dafür, dass Demokratie und Kapitalismus funktionieren.

Die Geschichte fing vor 28 Jahren an, als die spätere Pat Chapman in eine Ford-Niederlassung in Philadelphia spazierte. Sie kaufte schließlich einen 76er Granada in Silber, aber was viel wichtiger war, sie lernte Roy Chapman kennen. 1986 begannen die Chapmans mit der Pferdezucht. Sie kauften 40 Hektar in Pennsylvania und nannten sie Someday Farm. Ihre 20 Pferde ließen sie im Philadelphia Park laufen – einer Pferdebahn mit niedrigen Einsätzen, wo nebenbei an einarmigen Banditen gespielt wird. Große Hüte gibt es dort nicht, Siegpferde bekommen nicht sechs Millionen, sondern bestenfalls 6.000 Dollar.

Im Februar 2001 wurde das Fohlen Smarty Jones auf den Heuboden eines Stalles der Someday Farm geworfen. Ein prachtvoller junger Läufer, doch weil er kein reinrassiges Kentucky-Pferd war, traute man ihm nicht zu, über die eineinviertel Meilen bei den großen Rennen zu gehen. Die Vorurteile hielten bis zum Kentucky-Derby diesen Jahres. Obwohl Smarty ungeschlagen nach Louisville kam, wurde er im Fachblatt The Racing nur auf Rang vier gesetzt, die New York Times tippte Platz drei.

Das lag zum einen an dem Misstrauen gegenüber Smartys Stammbaum. Zum anderen lag es daran, dass Smartys Jockey noch nie bei einem großen Derby geritten war. Der 39 Jahre alte Stewart Elliott ist seit seinem 16. Lebensjahr Berufsjockey, doch den Durchbruch schaffte er nie. Vor vier Jahren war er das Tingeln auf den heruntergekommenen Rennbahnen im Osten, manchmal für gerade einmal 40 Dollar pro Rennen, und die ständige Selbstkasteiung wegen der Gewichtsbeschränkungen leid. Er begann zu trinken und schlug im Suff beinahe einen Mann mit einem Billard-Queue tot.

Auf Smarty kam Elliott per Zufall. John Servis, der Trainer, mit dem Elliott zusammenarbeitete, wurde von Roy Chapman angeheuert, weil dessen langjähriger Trainer Bob Camac vom ersten Mann seiner Frau erschossen worden war. Servis erkannte die Qualität von Smarty und er traute Elliott zu, mit Smarty große Rennen zu gewinnen. Er wurde nicht enttäuscht. Elliotts Vorstellung in Kentucky war eine taktische Meisterleistung. Weder der Zweijährige noch der fast 40-Jährige benahmen sich wie Anfänger. Und auch die Aussicht, die Triple Crown zu gewinnen, macht die beiden nicht sonderlich nervös. Smarty hat keine Ahnung, welche Hysterie er ausgelöst hat und dass er für die Underdogs Amerikas zu einem Symbol geworden ist. Und sein Jockey hat nach einem langen, harten Leben auf und abseits der Rennbahn Demut gelernt: „Man träumt sein ganzes Leben lang davon, auf einem Pferd wie Smarty zu sitzen. Ich bin nur dankbar, dass ich im Kopf wieder klar genug bin, dieses Glück zu schätzen.“