Multiple Identität

Jan Massys‘ „Flora“, gerade restauriert und derzeit in der Kunsthalle zu sehen, birgt viele Deutungsangebote

Vielfältig deutbare Frauenfigur spiegelt die gesamte frühbarocke Ikonographie

Auf ihrer Porzellanhaut entstellten die Dame verfärbte Retuschen, ihr Gesicht war weit von der einstigen Schönheit entfernt. Etwas Pflege war also notwendig, zumal das Alter schon knapp 450 Jahre betrug. Und so hat ein Unternehmen für das Gemälde von Jan Massys in der Kunsthalle die Restaurierung gesponsert.

Aber was stellt die blasshäutige Person im transparenten Chiffonhemd, mit erlesenem Goldschmuck und auf die Hüften gerutschtem roten Rock eigentlich dar? Anhand zahlreicher graphischer Blätter geht eine Ausstellung der Reihe „Im Blickfeld“ dem weiten Bedeutungsfeld dieses Ölbildes nach. So wird anlässlich der gerade abgeschlossenen Restaurierung um die halbnackt in einer Landschaft die Besucher anlächelnde Person, die drei Nelken hochhält, das ganze Universum der frühbarocken Ikonologie ausgebreitet.

Dem heutigen Bildtitel folgend, ist es dabei am einfachsten, in der Figur die Blumengöttin Flora zu erkennen. Aber schon das hat verschiedene Aspekte: Flora ist Patronin der Gärtnerkunst, steht im Jahreskreis für den Frühling, kann als Allegorie der Fruchtbarkeit der Erde oder als emblematische Figur der „Terra“ im Rahmen der vier Elemente verstanden werden. Aber das ist noch keineswegs alles. Die erotische Inszenierung dieser Flora und ihr um die Taille gelegter Venusgürtel mit Perle macht sie ebenso zur Darstellung der Liebesgöttin. Und schließlich könnte die Stadt im Hintergrund und der Luxus des angedeuteten Gartens eines Landschlösschens auf die Darstellung einer Kurtisane deuten.

Erstmalig taucht der nackte Frauenkörper in der Landschaft in der venezianischen Malerei des 16. Jahrhunderts auf. Die aus der antiken Vorstellung von in der Natur allgegenwärtigen Nymphen abgeleitete Bildidee verwies auf die naturgegebene Harmonie der arkadischen Gefilde und öffnete sicher auch eine Möglichkeit für einen geistreich begründeten Voyeurismus. In ihrer gezierten Künstlichkeit steht die Göttin – das Bild residiert seit 1919 in Hamburg – aber der Schule von Fontainebleau nahe, in der vorwiegend aus Norditalien berufene Künstler für den französischen König Franz I. eine formal verfeinerte und erotisch-mythologisch komplexe Hofkunst geschaffen haben.

Anders als in den meisten allgemeinen oder moralischen Vergleichsstichen dieser Ausstellung hält die Venus-Flora des Ölbildes von Jan Massys sich in einer genau lokalisierbaren Landschaft auf: Die Stadt im Hintergrund ist Antwerpen, die Statue links deren Schutzheiliger Salvius Brabo, der sich auf das in Stein gehauene Stadtwappen stützt. Und die Wappenfarben, Rot und Weiß, sind nicht nur die Farben der von Flora hochgehaltenen Nelken, sie dominieren die ganze Figur, die so auch als die blühenden Wohlstand versprechende Stadtverkörperung Antwerpia zu entschlüsseln ist.

In dieser kleinen, gelehrten Studio-Ausstellung der Kunsthalle all diesen Bezügen in Bildbeispielen der damaligen Zeit nachzugehen, ist ein intellektuelles Vergnügen. Und es macht bestürzend klar, wie unvorstellbar dicht einst die Bildproduktion mit visuell gefassten Bedeutungen aufgeladen war.

HAJO SCHIFF

Di–So 10–18, Do bis 21 Uhr; Kunsthalle, bis 7. 9.