Nicht ohne Ersatzmutter

Mamadou hatte Glück: Der minderjährige Flüchtlingsjunge hat einen privaten Vormund bekommen. Den Großteil jugendlicher Flüchtlinge betreuen immer noch Amtsvormünder – oft zu ihrem Nachteil

von SUSANNE LANG

Bis vor gut einem Jahr hätte Mamadou aus Angst gar nicht erst mit ihr gesprochen. Heute sitzt der Junge aus der Elfenbeinküste in einem Büro in einem Charlottenburger Altbau, knetet seine dunklen Hände und grinst der blonden Frau neben ihm mit einem strahlenden Lächeln ins Gesicht. „Ja, ja“, murmelt er und kichert. „Oui, oui: Mum.“ Heute nach gut einem Jahr in Deutschland hat Mamadou keine Angst mehr, mit Weißen zu reden. Heute strahlt er Claudia Lückenkötter ganz selbstverständlich ein „Mum“ entgegen, während die Berlinerin ihm ein Lachen zurückkullert und ihm den Arm knufft.

Mutter – streng genommen stimmt die Anrede natürlich nicht. Dass sich die Geschichte von Claudia und Mamadou trotzdem wie eine von Mutter und Sohn erzählen lässt, ist eine schöne Ausnahme im Alltag von Flüchtlingskindern. Ersatzmutter – das wäre die passendere Anrede. Vormündin – das ist die juristisch korrekte. Im Februar hat die Sozialpädagogin die Vormundschaft für den 17-Jährigen übernommen und ist seither eine von insgesamt 60 Einzelvormündern in Berlin, betreut vom Netzwerk „Akinda“, „Alleinstehende Kinder in Deutschland – Allein“. Ungefähr 100 Mündelkinder haben über Akinda einen Vormund gefunden.

Andreas Meißner würde gerne mehr Paare wie Mamadou und Claudia in seinem Büro scherzen sehen, obwohl der Akinda-Mitarbeiter weiß, dass die Vertrautheit der beiden eher eine Ausnahme ist. „Das Verhältnis muss nicht immer so eng sein“, sagt Meißner. „Aber Privatpersonen haben grundsätzlich mehr Zeit und Interesse als Amtsvormünder.“ Davon gibt es zurzeit zwei. Sie sind direkt dem Landesjugendamt unterstellt und müssen mehrere hundert Vormundschaften betreuen. „Faktisch sind Mündel bei der Vielzahl nur hängende Akten“, sagt Meißner und zuckt die Schultern. Vorwerfen könne man das den Beamten noch nicht einmal. Sie schaffen kaum mehr, als ihre gesetzliche Pflicht zu erfüllen: Personensorge, Vermögenssorge und Aufenthaltsbestimmungsrecht, d. h. über den Ort der Unterbringung entscheiden dürfen. Wie diese offiziellen Rechte und Pflichten eines Vormunds im Alltag aussehen, hängt vom Engagement des Vormunds ab.

Dass Lückenkötters Einsatz zu einem persönlichen Verhältnis geführt hat, merkt man schon daran, dass die „Akte“ Mamadou momentan nur in seinem Stuhl hängt und hin und wieder verlegen lächelt, während er von sich und seinem Leben erzählt. Von seiner Heimat, seiner Flucht, seiner Zeit in der Abschiebehaft. Obwohl er asylberechtigt war, weil sein Vater politisch verfolgt und im Bürgerkrieg ermordet wurde. Von der Haft, als er völlig auf sich alleine gestellt war, täglich nur eine Stunde Ausgang hatte und keinen, mit dem er auf Französisch hätte reden können.

Mamadou stockt immer wieder, während er erzählt. Auch wenn er über den Tag spricht, als ihn Claudia zum ersten Mal in der Haftanstalt besuchen kam. „Das war der schönste Tag“, nuschelt er auf Französisch. Deutsch spricht er immer noch sehr wenig. Auch deshalb ist seine Vormündin für ihn wichtig: Sie übersetzt, dolmetscht und lehrt ihm ein bisschen Deutsch. Zusätzliche „Personensorge“ nennt sich das. „Ich kannte ja niemanden hier in Deutschland“, fügt Mamadou hinzu. „Sie hat mir sehr geholfen.“ Vor allem, weil sie sich mit einem Anwalt dafür einsetzte, dass das Asylverfahren beschleunigt wurde.

Und während Claudia Lückenkötter diesen letzten Satz übersetzt, huscht auch über ihr Ersatzmama-Gesicht ein Lächeln. Unwohl fühlt sie sich scheinbar nicht in ihrer Rolle. „Er stellt mich auch ganz offiziell so vor“, sagt sie nicht ohne Stolz. Ob die Verantwortung manchmal zu groß sei? Die Sozialpädagogin überlegt kurz. „Nein“, meint sie, „ich bin ja nicht für alles verantwortlich.“ Wohnen ist so ein Beispiel, worum sie sich nicht kümmern muss. Mamadou ist in einem Jugendheim in Friedrichshain nahe ihrer Wohnung untergebracht. Als Vormund hätte sie das Recht, ihn in einem anderen Heim unterzubringen, falls die Betreuung ihrer Ansicht nach schlecht wäre. Aufenthaltsbestimmungsrecht. Im Falle einer Abschiebung jedoch hätte auch sie keine Chance.

„Hauptsächlich bin ich Ansprechpartner für Mamadou“, resümiert Lückenkötter. Für Probleme, die zwischen Schule, in die der 17-Jährige nun geht, Freunden und dem Leben in einer anderen Kultur im Alltag auftauchen. Mamadou grinst. „Ja“, sagt er, auf Deutsch. „Ja, dann rufe ich immer an.“ Manche Dinge besprechen sich dann einfach doch besser mit einer „Mum“.