Junk of Jesbach

Nach den Drogen jetzt die Musik. Ein Dorf verliert den Halt. Noch eine Reportage

„Wir wollen kein Helium, wir wollen Heroin!“, schreit die entfesselte Jesbacher Menge

Juli in Jesbach. 2003. Dichte Schwaden über dem Schwalm-Knüll-Kreis. Dicke Dämpfe dümpeln über Jesbach.

Diese Luft ließe sich ja beinahe schneiden, denkt Musikphilosoph Korph und beugt sich über die steinerne Brücke. Ein leichtes Zittern erschüttert sein Herz. Die Forellen tanzen Tango im Takt des Einklangs, den die Algen brummen. Korph lächelt.

Aber. Jesbach im Juli. Der Dorfkern brodelt. Und brennt. Die in jüngster Zeit durch schonungslose Berichte in der überregionalen Presse in rein dubioses Licht getaufte nordhessische Gemeinde feiert ihren „Sound of Jesbach“. Die Bewohner bauten erstmals in der Geschichte des in Verruf geratenen Dorfes auf dem Rokoko-Marktplatz eine Musikbühne auf, die nicht weniger als fünfunddreißig mal vier Meter misst und an beiden Seiten von – aus grubengefördertem Pappmaché geschürften – Fliegenpilzfigurationen flankiert wird. Darüber scheint die Sonne.

Käthe Z. schwelgt. „Der Sound of Jesbach ist doch nur logisch“, jiept die rüstige „Edeka“-Amazone. Seit die „Männer aus der Stadt“ Jesbach aus seinem Dornröschenschlaf gerissen haben, „ist hier die Hölle los!“, sagt sie mit einer Stimme, die an den 41-jährigen Joe Cocker erinnert. Auch Käthe Z. ist endgültig nicht mehr die Alte. Sie trägt jetzt pinkfarbene Haarnetze und keine Unterhosen. Sie nennt sich jetzt Cathy Set. Wie Fisher Z.

Manche mögen sich erinnern: Jesbach, das einst so sehr im Schlummer der Langsamkeit darbende Örtlein im sagen- und märchenhaften Schwalm-Knüll- Kreis, verwandelte sich dank einer Drogenverkostung in ein extrem wütendes Party-„Nest“ (die Wahrheit berichtete).

„Wir waren lange genug ein von Gott verdammtes Nest“, koffert Horst K. und drückt sich die Kanüle in die Armbeuge. Hinter ihm pumpen und billern die Bässe. Robbie Williams, der Opener des Jesbacher Open-Flair-Festivals, ist gerade dabei, eine in Moll gehaltene Ballade anzustimmen – auf eine 23-jährige blonde Jesbacherin, die auf den Namen Paulina hören soll. Augenblicklich fliegen blutjunge Ferkel auf die Bühne, und es erschallt wie aus einer Kehle: „Nimm sie!“

Jesbach tobt. Pfarrer Sommerauer ist außer sich. Während halbmannshohe Urinwellen durch Jesbachs Hauptstraße schlocken und sprotzelnd gegen das Sandstein-Barock-Rat-Haus schwappen, schwärmt er unverblümt von seinem heute Morgen abgehaltenen Gottes-„Dienst“. „Madonnas Proben für den Sound of Jesbach haben uns angefixt. Die Gemeinde rockt. Wir machen jetzt Abendmahl nach der Methode ‚Holy Carmen Thomas‘. Jeder kriegt seinen Kelch. Eigenurin statt französischer Erzfeindwein!“

Unterdessen auf der Bühne. Xaver Nödu überreicht der aus Hanau eingeflogenen Nee-Naa 299 Wortballons. Publikumsproteste. „Wir wollen kein Helium, wir wollen Heroin!“, schreit die entfesselte Jesbacher Menge. Nödu reagiert gewohnt professionell und intoniert seine Zeile: „Spei mir noch einmal in die Augen, Baby, bevor du blähst!“

Da macht sich Gelassenheit breit. „Jetzt kommt ja gleich Jes“, gluckst Brauer Karl, „und die schicken wir stahlwarm zum Urinal Contest.“ Sein Ecstasy-Bier schmeckt nicht nur Konstantin Wecker, der zu spät zu seinem Auftritt erschienen war und dessen Gage deshalb vom Rat of Jesbach um 1,50 Euro auf 2,70 Euro gesenkt wurde. Unbeeindruckt davon läuft Wecker gerade an der frisch angelegten Fahrrad-Markierung auf dem Jesbacher Trottoir entlang. „Unser Asphalt-Literat“, lacht Brauer Karl und hebt einen Plastikbecher mit Lightning-Beer. „Das mach ich jeden Tag in mehreren Hektotonnen. Nur für unsere Underclass.“

Konstantins treueste Fans, die Mitglieder des Inkontinental-Clubs um Vorsitzende Hildegund K. (90), laufen derweil Sturm gegen die in weißen Tütchen gereichten Jumphetamine. „Die hauen zwar rein“, so Drogenbeauftragte Hildegund K., „aber die Wirkung lässt so schnell nach im Vergleich zu den links abdrehenden Joghurtkulturen, die unsere Bäckerei Buchmann seit vielen Jahrzehnten im Angebot hat.“

In dem Moment, in dem diese Worte gesagt werden, biegt ein bulliger Bauarbeiter um die begonienverzierte Balustrade der Bäckerei Buchmann. Der Musikphilosoph Korph aber bekommt von all dem nichts mit. Pech …

JÜRGEN ROTH/MICHAEL TETZLAFF