„Linke EU-Kritiker haben geschlafen“

Dagmar Roth-Behrendt

„Discounter drücken bei Bauern den Milchpreis, bieten nur noch Produkte mit gewissen Verdienstspannen an, das macht mich wütend. Wer es sich als Konsument erlauben kann, sollte eben eine bewusste Wahl treffen“

1989 tauschte die Rechtsanwältin ihren Posten in der Bezirksverordnetenversammlung Spandau mit einem Sitz im Europäischen Parlament. Die Berliner Gesundheitspolitikerin wurde dort zur Expertin für Verbraucherpolitik. Nein, den Krümmungswinkel von Gurken bestimme sie keineswegs, erklärt sie seitdem unablässig – was genau sie tut, wissen viele Berliner dennoch nicht. Am Sonntag will die 1953 in Hessen geborene Sozialdemokratin zum vierten Mal ins EU-Parlament gewählt werden

Interview ADRIENNE WOLTERSDORF

taz: Frau Roth-Behrendt, Sie vertreten seit fast 15 Jahren den Wahlkreis Berlin im Europäischen Parlament. Warum kennt Sie niemand?

Dagmar Roth-Behrendt: Ich weiß, dass das so ist – hat ja auch Vorteile, ich kann unbeobachtet in der Stadt herumlaufen. Die meisten Menschen kennen aber ihren Bundestagsabgeordneten auch nicht, das tröstet mich schwach.

Bis zur Wende waren Sie SPD-Bezirkspolitikerin in Spandau. Was verbindet Sie heute noch mit Berlin?

Mein halbes Leben. In Berlin habe ich meine Ausbildung gemacht, ernsthafte Beziehungen begonnen, habe hier meine erste Stelle als Rechtsanwältin gehabt, begann hier politisch zu arbeiten, in Berlin habe ich mich gesettelt. Meine Lila-Latzhosen-Zeit hatte ich in Marburg hinter mir gelassen.

1968 waren Sie 15 – und wild?

In meinem Mädchengymnasium in Friedberg, Hessen, organisierte ich Streiks gegen Berufsverbote, Radikalenerlass, Numerus clausus. Ich war für damalige Verhältnisse relativ frech und war ziemlich überzeugt davon, zu wissen, was richtig und was falsch ist.

Ist ja einen gute Voraussetzung, um in die Politik zu gehen …

Ja, Klassensprecherin, Schulsprecherin, das war klar. Politik und Parteien waren mir mit 20 aber zu etabliert. In meiner Marburger WG-Zeit haben wir uns über so was nächtelang gefetzt. Eines Tages sagte ein Mitbewohner zu mir: Hör mit deiner Meckerei auf. Entweder du änderst was, oder du meckerst nicht mehr. Ich fand, dass er Recht hat und engagierte mich in zwei Bürgerinitiativen.

Und von da aus ging’s zur SPD?

Ich wurde Parteimitglied, als ich 1978 nach Berlin kam.

Damals war Dietrich Stobbe mit der SPD hier am Ruder, war das attraktiv?

Die SPD war natürlich die Partei Willy Brandts, und damit war sie mir einfach am nächsten. Ich habe ja auch Jura studiert, weil ich an Gerechtigkeit und Solidarität glaubte. Heute, nach einigen Ernüchterungen, sehe ich das manchmal mit kritischer Solidarität zur SPD. Aber ich würde ihr jederzeit wieder beitreten.

Mit Klaus Wowereit hat sich die Berliner SPD sehr verändert, erkennen Sie die noch wieder?

Klar, die Berliner SPD ist durch einen Veränderungsprozess gegangen, wie auch die Bundespartei. Die Personen haben sich verändert, sind jünger geworden. Ich tu mich schwer damit, das als Qualitätsänderung zu sehen.

Klaus Wowereit zum Beispiel hat mal eine Weile etwas zu viel getanzt und sein Image litt. Heute ist er wieder recht beliebt. Bei EU-Politikern denken viele, die kassieren nur. Haben Sie ein Imageproblem?

Ich glaube, Klaus Wowereit hat für Berlin eher positiv geworben und ein gutes Image geprägt. Verbunden mit diesem ewigen Neidgedanken, es könnte jemand – und zwar niemals Sportler, sondern immer nur Politiker – zu viel verdienen, möchte ich mal anregen, das auch in den Zusammenhang mit Leistung zu stellen.

Insbesondere Sie reagieren sehr dünnhäutig, wenn es zum Thema EU-Abgeordnete und ihre Bezüge kommt. Sind Sie frustriert, weil nach all den Jahren die Leute immer nur fragen, was verdienen Sie eigentlich?

Hat schon was damit zu tun. Ich finde das legitim, dass ich das gefragt werde. Es ist ja auch kein Geheimnis. Im Abgeordnetengesetz steht, dass die deutschen Europaparlamentarier so viel verdienen wie Abgeordnete des Bundestages. Das ist völlig transparent. Niemand aber fragt uns Europaabgeordnete nach der politischen Arbeit, das frustriert.

Andere Politiker erzählen den WählerInnen ständig, was sie für sie tun. Warum tun Sie das nicht?

Ich gehe, sobald ich nicht in den Sitzungswochen in Brüssel oder Straßburg bin, zu Lehrern, zu Schülern, zu Journalisten, zur Industrie. Die vor allem müssten es ja wissen, weil sie mit den Regelungen arbeiten, an denen ich mitwirke. Ich muss denen aber immer wieder sagen, die hat das Europäische Parlament gemacht, nicht das Abgeordnetenhaus, nicht der Bundestag.

Was haben Sie denn zuletzt erwirkt, was ich in meinem Berliner Alltag spüre?

Wenn Sie sich eine Digitalkamera kaufen, um damit den weniger dünnhäutigen Elefanten zu fotografieren – dann haben Sie neuerdings gesetzlich vorgeschrieben zwei Jahre Garantie auf die Sachen. Bei jeder Waschmaschine, jedem Staubsauger, dazu brauchen Sie keine großzügige Frist des Unternehmens mehr, sondern haben einen Anspruch darauf. Auch Bargelderstattung bei Verspätungen während ihrer Pauschalreise. Oder saubere Luft, etc.

Können Sie überhaupt noch entspannt zum Einkaufen gehen, oder geht da der Europäische Verbraucherschutz über den Markt?

Ich gehe jede Woche auf den Markt, die Leute empfinden das als ziemlich pestig, wenn ich immer wieder frage, wo kommt das Rindfleisch her, wie groß ist die Bodenfläche der Legehennen? Klar, ich kaufe mit anderen Augen ein, ich gucke mir auch sehr genau die Preise an, denn das Europäische Parlament hat vor zwei Jahren durchgesetzt, das es auf jeder Ware einen Mengenpreis geben muss. Sie sehen jetzt sofort den 100-Gramm-Preis und können besser Packungsgrößen und Preisunterschiede vergleichen.

Aber das Problem des Verbraucherschutzes ist doch nicht der Ökomarkt. Das sind die Mega-Supermärkte und der Preiskampf bei Lebensmitteln, in denen Leute mit schmalem Geldbeutel ungesunde Sachen einkaufen.

Klar, wir müssen uns über Qualität mehr Gedanken machen, als der Griff nach der Chipstüte braucht. Im Laufe der Zeit sind unsere Ausgaben für Lebensmittel im Verhältnis zum Bruttoeinkommen immer mehr gesunken.

Entscheidet der Verbraucher also falsch?

Ja, es ist eine falsche Entscheidung, immer in die Billig-Discounter zu rennen. Das wird in unseren Nachbarländern anders gehandhabt. Zum Beispiel Frankreich. Die Franzosen verdienen keinesfalls mehr, im Gegenteil, aber sie geben fast 10 Prozent mehr für ihre Ernährung aus, sie achten einfach mehr auf Qualität. Ich meine, selbst Geringverdiener könnten bewusst einkaufen, einen Teil beim Discounter, aber wenn Fleisch, dann beim Fleischer gekauftes.

Sind die Verbraucher also dumm?

Die Verbraucher müssen begreifen, dass sie die Macht haben, das zu bekommen, was sie „verdienen“. Wenn wir irgendwann nur noch Lebensmittelketten haben, weil die kleinen Läden alle dichtgemacht haben, haben die dann Macht über uns. Das ist eine Wirkungskette: Discounter drücken bei Bauern den Milchpreis, bieten nur noch Produkte mit gewissen Verdienstspannen an etc., das macht mich wütend. Wer es sich als Konsument erlauben kann, sollte eben eine bewusste Wahl treffen.

Bei den Antiglobalisierern, also Leuten, die durchaus bewusst konsumieren, ist eine gewisse Anti-Europa-Stimmung aufgekommen. Das hat zum Beispiel mit mehr Wettbewerb, Privatisierungen etc. zu tun. Warum sind gerade Linke Ihrer Meinung nach so EU-kritisch?

Tja, ich kann es mir nur mit dem festen Willen erklären, sich nicht informieren zu wollen. Natürlich kann man die Landwirtschaftspolitik der EU kritisieren, aber so, wie manche dieser so genannten linken Gruppen – ich halte sie ja eher für erzkonservativ – sich nicht damit auseinander setzen wollen, dass die EU nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft ist. Die haben einfach in den letzten Jahren geschlafen, anstatt zu sehen, was die Union bewirkt hat.

Die Kritik bezieht sich vor allem hier in Berlin auf den von der EU-Kommission ausgehenden Liberalisierungsdruck auf die öffentliche Daseinsvorsorge, also die Wasserbetriebe, den öffentlichen Nahverkehr etc.

Liberalisierungsdruck ist so ein Schlagwort, mit dem ich nichts anfangen kann. Es ist richtig und gut, dass es unterschiedlichste politische Bewegungen gibt, das kann Denkanstöße geben. Man muss aber genau hingucken und schauen, ob es nicht einfach die Ablehnung der EU ist, oder ob es wirklich der Wunsch ist, etwas besser zu machen. Und dann möchte ich die Alternativen hören. Dann möchte ich ein ehrliches Bekenntnis hören zur Auflösung der EU und einer Rückkehr zu den Nationalstaaten.

Linke EU-Kritiker fordern wieder mehr Einflussmöglichkeiten der Bürger auf kommunale Entscheidungen. Gerade Berlin muss sich mit dem EU-Wettbewerbsrecht warm anziehen. Unsere Monopolbetriebe sind noch nicht wettbewerbsfähig.

Klar kann ich das verstehen. Meine Partei hat immer gesagt, dass das Wettbewerbsrecht die Europäische Union nicht beherrschen darf. EU bedeutet ja auch Schutz der Menschen in ihren Regionen. Die Leistungen im öffentlichen Interesse, das, finde ich, klingt besser als Daseinsvorsorge. Das ist natürlich mehr als nur die Frage, welcher Bus fährt billiger. Solche Leistungen können aus sich selbst heraus nicht rentabel sein. Das muss beim Wettbewerbsrecht berücksichtig werden, das haben wir ja versucht durchzusetzen. Das ist in Berlin natürlich eine extrem wichtige Frage, weil es nicht nur Daseinsvorsorge für Energie, Wasser und Transport betrifft, sondern in Zukunft eventuell auch Kultur, Bildung und Krankenhäuser.

Hat denn Ihrer Meinung nach die Politik, vor allem die SPD, überhaupt ihre Hausaufgaben gemacht und eine breite gesellschaftliche Debatte darüber geführt, was wir uns in Zukunft noch leisten wollen und was nicht?

Nein, das ist es, was wir in Zukunft noch machen müssen. Hier in Berlin wurde die Diskussion notgedrungen aus Kostengründen begonnen und bisweilen quälend geführt. Man muss aber umfassend darüber reden und nicht immer nur an der Haushaltslage orientiert.

Die Berliner SPD hat sich mit Haut und Haar der Privatisierung verschrieben, bevor diese Debatte überhaupt geführt wurde. Ist das ein Fehler?

Ich hätte mir gewünscht, dass neben der Verzweiflung, die nach dem Bankenskandal bei allen im Kopf war und jeder glaubte, wir können den nächsten Tag nicht mehr bezahlen, auch die Einsicht immer klar dagewesen wäre, dass wir um diese Diskussion nicht herumkommen. Vielleicht wäre man ja zu den gleichen Ergebnissen gekommen.