Sozialer Zündstoff zündet nicht

Richtungweisend sollte der Stadtpolitische Kongress für die Protestbewegung werden. Doch viele Aktivisten glänzten durch Abwesenheit. Der Rest stritt über das Volksbegehren gegen den Senat

VON FELIX LEE

Leidet die Stadt unter „Kongressilitis“? Martin Reeh von der „Initiative Berliner Wahlalternative“ glaubt: Ja. Leider. Nach dem großen Perspektivenkongress von Attac und Gewerkschaften Mitte Mai und dem Rosa-Luxemburg-Kongress vor einer Woche scheint sich in der Berliner Linken ein Überdruss an Kongressen breit zu machen. Allein an diesem Wochenende fanden in Berlin mindestens zwei weitere linke große Treffen statt. So erklärt sich Reeh, warum auf dem Stadtpolitischen Kongress in der Humboldt-Universität gerade mal 120 Personen anwesend waren – erwartet hatten die Veranstalter das Vierfache. Und es waren die „üblichen Verdächtigen“, wie einer der Teilnehmer es bezeichnete, die nach den großen Demonstrationen vom Herbst und Frühjahr über die Frage diskutierten, wie es mit dem Protest gegen Sozialkürzugen weitergehen soll. Von wirklich neuen Impulsen war nichts zu spüren.

Organisiert hatte die Tagung das Berliner Bündnis gegen Sozial- und Bildungsraub. Auf sechs Foren diskutierten die Teilnehmer unter anderem über Maßnahmen gegen die Kürzungen im Sozial- und Bildungsbereich, über ein Schuldenmoratorium für Berlin, über eine soziale Grundsicherung und die Organisierung eines breiten Bürgerprotests. Von der Initiative Recht auf Mobilität, den PostpessimistInnen, der Bürgerinitiative Stuttgarter Platz über die Kampagne Berlin Umsonst bis zum Netzwerk Gewerkschaftslinke, von Ver.di und GEW bis hin zu Erwerbslosenorganisationen, dem linksradikalen Bündnis ACT und neuen Studentengruppen, die aus dem Winterstreik hervorgegangen sind, waren sie allesamt vertreten.

In der inhaltlichen Kritik am rot-roten Senat und an den bundesweiten Sozialkürzungen waren sich die meisten Teilnehmer auch weitgehend einig. So rechnen die linken Aktivisten und Gewerkschafter damit, dass mit der Einführung von Hartz IV zum 1. Januar 2005 allein in Kreuzberg von einem Tag auf den anderen über 30.000 Menschen in die Sozialhilfe rutschen könnten, berlinweit seien es rund 180.000. An Themen, die für sozialen Zündstoff sorgen, mangelte es aus Sicht der Diskutanten also nicht.

Die Abschlussveranstaltung zeigte aber, welche Debatte auf dem Kongress tatsächlich dominierte: das Volksbegehren zur Abwahl des rot-roten Senats. Während nämlich die Gewerkschaft GEW, einzelne Vertreter der IG BAU und vor allem Gruppen aus dem trotzkistischen Umfeld das Volksbegehren tatkräftig unterstützen, beäugen die meisten außerparlamentarischen Initiativen das Volksbegehren und die Initiative Berliner Wahlalternative mit großer Skepsis.

Rainer Wahls vom Berliner Sozialbündnis betonte, dass sein Bündnis „sich nicht an einem Verfahren zur Abwahl des Berliner Senats beteiligt“, auch wenn es mit Michael Prütz, dem Initiator, und einigen anderen, personelle Überschneidungen gibt. Uschi Volz-Walk, organisiert im Berliner Sozialforum (nicht identisch mit dem Berliner Sozialbündnis) kritisiert, dass das Volksbegehren nur viele Kräfte binden würde, Wesentliches an der Senatspolitik verändern würde diese Initiative aber nicht. Volz-Walk fand es auch bezeichnend, dass sowohl beim Volksbegehren als auch bei der „Initiative Berliner Wahlalternative“ überwiegend Männer die Strippenzieher seien. Von „üblicher traditioneller Machtpolitik“ sprach sie, da könne ja nichts grundlegend Neues herauskommen.

Prütz hingegen konterte: „All die außerparlamentarischen Aktivisten hier wissen doch selbst nicht, was in den nächsten Jahren passieren soll.“ Prütz sieht im Volksbegehren die Chance, die vielen „vor sich hin dümpelnden Einzelinitiativen“ zu bündeln und einer wahlfrustrierten Bevölkerung zu ermöglichen, ihren Protest überhaupt wieder zu formulieren.

Für Mitorganisator Yann Eric Doehner vom Sozialbündnis hat der Stadtpolitische Kongress die Erwartungen nicht erfüllt. Weder hätten sie mehr Leute erreicht noch habe es richtungweisende Debatten gegeben. Doehner: „Vielleicht zeigt der Kongress einfach, wo die linke Bewegung derzeit steht.“