Radler-Hauptstadt für ein Tag

Rekord und Respekt: 250.000 Menschen demonstrieren für ein besseres Radeln in der Stadt. Aber die Sternfahrt ist auch eine sportliche Herausforderung: Sechs Stunden auf dem Sattel machen müde

VON RICHARD ROTHER

Radfahrer sind pünktlich wie die Maurer. Wie geplant um 9.30 Uhr setzte sich gestern der östliche Teil der Fahrradsternfahrt am Marktplatz in Altlandsberg, einer hübschen Kleinstadt zwischen Berlin und Strausberg, in Bewegung. Zwei- bis dreihundert Radfans mögen es sein, die hier den weiten Zickzackkurs zum Brandenburger Tor vor sich haben.

Die Fahrradsternfahrt, die mehr Respekt für Radler fordert, beginnt recht harmlos. In gemütlichem Fahrtempo geht es vorbei an blühenden Rapsfeldern, Pferdekoppeln, Kiefernwäldchen – vor allem aber an Gärten, Gärten, Reihen- und Einfamilienhäuschen. Der Speckgürtel scheint schier endlos zu sein. Immer wieder aber ziehen die Sternfahrer das Tempo an – Fahrradfahren ohne Autos, Smog und rote Ampeln macht schließlich Spaß. Auch und gerade bei Gegenwind, der zuerst angenehm die heißen Frühsommersonnenstrahlen kühlt, dann aber richtig Puste kostet.

Nach einer Stunde endlich die erste Pause: Am Bahnhof Mahlsdorf warten schon dutzende andere. Kurze Zeit zum Trinken und Verschnaufen, bevor es auf die Minute plangenau um 10.45 Uhr weitergeht. Eine Fahrradsternfahrt mit 16 Start- und unzähligen Transitpunkten ist schließlich eine logistische Herausforderung.

Den Teilnehmern – alle Altersstufen sind vertreten – ist das vermutlich egal. Eingefleischte Radprofis mit Helm und Armschützern sind darunter, ältere Leute mit DDR-Fabrikaten und Jugendliche BMX-Fans. Den meisten ist die Tour beides: Ausflug und Demonstration. Viele sind extra mit der S-Bahn nach Strausberg oder Mahlsdorf herausgefahren, um mitzumachen.

In der Stadt Rad zu fahren sei furchtbar, beschwert sich ein Mittvierziger, der schon zum dritten Mal bei der Sternfahrt dabei ist. „Zu viele Abgase, zu viel Stress. Man muss immer aufpassen.“ Deshalb sei er in Berlin eher mit der U-Bahn unterwegs. Auch ein anderer, älterer Radfan benutzt im Alltag die BVG. „Wenn ich Fahrrad fahre, beschwert sich meine Frau, dass ich nach Schweiß rieche.“ Das stört eine Gruppe sportlicher Herren aus Werneuchen, einem Städtchen am östlichen Stadtrand, wenig. Nach der Tour wollen sie zurück nach Hause radeln, um am Abend mit dem Auto zur Skater-Demo zu fahren.

Die Route führt weiter durch die Plattenbau- und Gartengebiete von Hellersdorf und Marzahn. An jedem Treffpunkt werden es mehr Radfahrer, die klingelnd durch die Straßen rollen. Am Bahnhof Lichtenberg sind es schon mehrere tausend. Und an der Neuköllner Autobahnauffahrt Grenzallee sind es so viele, dass sich der Fahrradverkehr eine halbe Stunde lang staut, bevor es im großen Bogen über die Stadtautobahn zum Brandenburger Tor geht.

Rund eine Viertelmillion Radler sind es nach Angaben der Veranstalter insgesamt, die sich gestern der Sternfahrt angeschlossen haben. Das sei absoluter Rekord, sagte Sprecher Benno Koch vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad Club (ADFC). „Berlin war am Sonntag die Fahrradstadt Europas.“ Die Demonstration zeige, wie groß der Wunsch der Menschen sei, das Fahrrad im Alltag und in der Freizeit zu nutzen, so Koch, der auch der Fahrradbeauftragte des rot-roten Senats ist. Im vergangenen Jahr wurden rund 100.000 Teilnehmer gezählt.

Die Altlandsberger sind – je nach ihrem Tempo auf der Autobahn – nach fünf, sechs Stunden durchaus anstrengender Radelei am Ziel angekommen, konnten dort das Straßenfest der Grünen Liga besuchen und sich mit Ökobratwurst und -bier für den Rückweg stärken. Die meisten aber werden sich dafür einfach ein S-Bahn-Ticket gekauft haben.