Der Kultreporter

Herbert Watterott ist als Tour-de-France-Reporter beliebt wie keiner: Niemand weiß so sehr über den Radrennsport Bescheid wie der Mann, der aus Abenteuerlust Sportjournalist wurde

Interview REIMAR PAUL

taz.mag: Haben Sie schon einmal mitgezählt, wie oft Sie bei der Tour de France dabei waren?

Herbert Watterott: Ich weiß nur, dass ich seit 1965 mit der Tour de France unterwegs bin, in diesem Jahr also zum 38. Mal. Und es gibt niemanden, der so lange dabei ist. Klaus Angermann vom ZDF hat ja aufgehört.

Ist die Tour Ihr beruflicher Höhepunkt des Jahres?

Natürlich. Es ist das schwerste Radrennen der Welt. Der Giro und die Spanienrundfahrt dauern zwar auch mehrere Wochen, aber die Tour de France ist am härtesten. Und sie ist, auch ihrer Geschichte wegen, ein Monument.

Man hört aus Ihren Berichten heraus, dass Sie über jeden Fahrer außergewöhnlich gut Bescheid wissen. Woran liegt das?

Ich bereite mich jedes Jahr neu vor. Ich führe ein Archiv – mit einer Karteikarte über jeden Profi –, das ich ständig aktualisiere. So kenne ich den lückenlosen Verlauf der Karrieren. Dann lese ich jeden Tag die Gazzetta dello Sport, die Sportzeitung mit dem umfassendsten Radsportteil. Ich habe auch L’Équipe abonniert, das Blatt, das die Tour ausrichtet. Und noch eine belgische Sportzeitung. In diesen Blättern steht so viel drin, was andere Leute, die diese Zeitungen nicht lesen, ja nicht wissen können.

Nennen Sie bitte ein Beispiel.

Danilo di Luca. Wer die ausländischen Zeitungen nicht durchackert, würde sagen, klar, der hat ja vor drei Tagen die Ligurienrundfahrt gewonnen. Ich kann aber sagen: Das ist eine der großen Zukunftshoffnungen. Dieser Mann wird ganz klug geführt von einem ganz berühmten früheren Rennfahrer, von Vito Tacone.

Die Gemse der Abruzzen, wie man ihn nannte.

Genau. Und dieser di Luca ist genau da geboren, wo Tacone auch herkommt, und Tacone hat dem alles beigebracht. Das sind Sachen, die weiß man eben, wenn man in den Zeitungen stöbert.

Sie kennen sich auch mit der Geografie, der Kultur und der Küche der jeweiligen Region gut aus. Steht das auch in den Fachblättern?

Wenn im Oktober die Route bekannt wird, dann weiß man ja, durch welche Gegenden und Städte die Tour führt, und dann kann man sich schon mal einiges raussuchen. Im April gibt’s dann den genauen Streckenverlauf, dann sammeln wir schon mal die Bücher zusammen und schlagen nach, was es über die Orte zu sagen gibt. Wie viele Einwohner, das tollste Museum, welche Kirchen, welche Schlösser es da gibt, was da gegessen und getrunken wird, welche Fische gefangen werden, wo die Leute arbeiten.

Die französischen Veranstalter geben ja auch noch ein Heft heraus, in dem akribisch beschrieben wird, welche Sehenswürdigkeiten während der Tour von den Kameras eingefangen werden.

Ja, aber das gibt es erst kurz vor der Tour. Einmal gab es einen Zielort, der hieß Cadillac. Dort ist mal der frühere Besitzer von General Motors im Urlaub gewesen, er hat da in einer Villa gewohnt und es sich gut gehen lassen. Und dann hat er den Leuten gesagt, meine nächste Automarke heißt Cadillac. Daher der Name. So saugt man sich den ganzen Krempel zusammen.

Wie läuft ein Tourtag für Sie ab?

Wir sind den ganzen Tag auf Achse. Morgens zweihundert Kilometer zum nächsten Zielort fahren, dort ins Hotel, Redaktionsbesprechung, fünf Stunden auf der Tribüne hocken, noch mal besprechen, was war gut, was schlecht, was müssen wir für den nächsten Tag wissen. Dann vielleicht abends noch was durchlesen oder sortieren oder aus den Büchern was raussuchen und übersetzen, dass da und da zum Beispiel eine Brücke steht, über die Hannibal oder die Römer mal gezogen sind, morgens früh die Zeitung holen, die ausschlachten und sich wieder auf die nächste Etappe vorbereiten.

Jeder, der Sie hört, merkt dass Sie mit Herzblut bei der Sache sind. Was fasziniert Sie so an Radrennen?

Ich habe schon als Jugendlicher am Radio gesessen und die Übertragungen von Sportveranstaltungen und eben auch von Radrennen gehört. Dabei hat mich die Symbiose aus Abenteuer und Unterwegssein in fremden Ländern fasziniert. Wenn die früheren Koryphäen reportiert haben, Günter Isenbügel, Rudi Michel und all die anderen, dann war das ein Erlebnis. Vor allem, als man selbst jung war, kein Geld hatte und noch nie verreist war. Ich wollte dort hin, wo die auch waren. Deshalb wusste ich früh, dass ich selbst Sportreporter werden will.

Gibt es eine Tour, an die Sie sich besonders intensiv erinnern?

Ich denke an 1977, logisch, als wir alle staunend in der Gascogne standen und Didi Thurau fährt ins Gelbe Trikot und behält das Ding fünfzehn Tage. Da wurden dann plötzlich Sendezeiten frei geschaufelt, und man kriegte aus der Heimat mit, dass es sowas noch nie gegeben hatte, und dass die Leute in Deutschland überall über die Tour und Thurau redeten. Das war schon toll, muss ich sagen. Dann natürlich die 97er Tour mit Jan Ullrich und Erik Zabel. Und die großen Fahrten von Eddy Merckx, die waren auch was Besonderes.

Warum sieht man Sie im Gegensatz zu Ihren Kollegen Jürgen Emig oder Hagen Boßdorf so selten auf dem Bildschirm bei Interviews oder beim Moderieren?

Das haben viele bemerkt. Die Leute fragen, warum sieht man Watterott nicht. Ich habe zwar auch schon moderiert, aber Sportschau-Moderator zu werden war nie mein Ziel. Ich hatte da nie Ehrgeiz, und das können manche Leute auch sicher besser. Jetzt bin ich 62, und es heißt, die Jüngeren sollen ans Ruder. Emig ist Sportschau-Moderator, also moderiert er auch bei der Tour de France. Boßdorf hat ja auch schon viel moderiert, nicht nur Radsport. Ich bin kein Moderator mehr. Deshalb kommentiere ich nur noch.

Wer gewinnt dieses Jahr die Tour?

Lance Armstrong hat in den vergangenen vier Jahren bewiesen, dass er das Händchen hat, sich so vorzubereiten, dass er auf die Sekunde fit ist. Für meine Begriffe gibt es nur einen Gegner, der, wenn er fit ist, ihm Paroli bieten kann – Jan Ullrich. Es gibt keinen Rennfahrer, der so komplett ist wie er. Aber ihm fehlt ein Jahr Vorbereitung.

Es wäre außergewöhnlich, wenn Ullrich bei der Tour de France ganz vorne fahren würde.

Das wäre es tatsächlich. Ullrich hat vielleicht Ende des Jahres bei der Weltmeisterschaft eine Chance. Wenn dann alles zusammenkommt – dass er nicht übergewichtig ist, dass das Knie hält –, dann kommt bei solchen Ausnahmetypen die Form viel schneller als bei anderen, die sich das alles erarbeiten müssen. Zumal Ullrich ja auch im Berg komplett ist und neben Armstrong und Botero zu den weltbesten Zeitfahrern gehört.

Wer ist sonst vorne mit dabei?

Die üblichen Verdächtigen. Der Spanier Beloki, der dieses Mal alles auf eine Karte setzen wird. Sicherlich wäre Roberto Heras ein ganz heißer Gegner für Armstrong, aber den hat er nun in sein Team eingekauft. Wenn Heras auf eigene Rechnung führe, dann könnte er Armstrong auch in den Bergen wegfahren.

Wen halten Sie für den besten Radfahrer aller Zeiten?

Eddy Merckx. Eindeutig. 525 Siege. Da wird nie mehr einer ran kommen. Es gibt heute keinen mehr, der so viel fährt wie Merckx in seiner Karriere gefahren ist. Auch Armstrong nicht, der fährt zwei bis drei Klassiker und die Tour, mehr nicht. Der fährt den Flèche Wallone, das kann er und hat er auch schon gewonnen, dann Lüttich–Bastogne–Lüttich, Amstel Gold Race. Paris–Roubaix fährt Armstrong schon nicht mehr, weil er Angst hat, dass er hinfällt und sich die Knochen bricht und dann für die Tour kaputt ist.

Mailand–San Remo fährt Armstrong nur zum Formaufbau, das hat er nie gewinnen wollen.

Zutreffend. Aber auch von der Veranlagung her lege ich mich auf Merckx als besten Fahrer aller Zeiten fest. Der gewann drei Klassiker und den Giro und die Tour in einem Jahr und wurde dann noch Weltmeister. So was gibt es heutzutage nicht mehr. Es gibt noch ein paar Leute, die zwei Rundfahrten fahren und ganz, ganz wenige, die alle drei fahren. Aber das sind keine Leute, die ganz oben angesiedelt sind. Denn man kann sich nicht innerhalb von vier Monaten so aufbauen, dass man drei Rundfahrten auf Topniveau fährt.

Fahren Sie selbst auch Rad?

Ich bin Mitglied in einem Radrennclub in einem Vorort von Bensberg bei Köln, in Resrath. Der Club heißt Staubwolke Resrath. Der Name passt in die Annalen des Radsports von früher, wo es noch keine geteerten Straßen gab, sondern Gerümpel, Dreck und viel mehr Unfälle. Da bin ich heute noch Mitglied. Ich habe eine Lizenz, aber ich bin keine Rennen gefahren. Aber ich habe ein Rennrad und fahre mit Kumpels oder allein durchs Bergische Land, Runden von sechzig bis siebzig Kilometern und pausenlos rauf und runter. Nachdem ich ein paar Mal hingefallen bin, fahre ich bei Regen allerdings nicht mehr los.

REIMAR PAUL, Jahrgang 1955, lebt in Göttingen und träumt seit Jahren davon, die Etappe nach Alpe d’Huez mal als Erster zu beenden