Stilles Leiden am Berg

Vor vier Jahren gewann Giuseppe Guerini die Königsetappe nach L’Alpe d’Huez, obwohl ihn ein Fan zuvor vom Rad holte. Wenn er morgen die 21 Kehren hinaufstrampelt, trägt eine Kurve seinen Namen

aus Vitry-le-François SEBASTIAN MOLL

Ein Siegertyp ist Giuseppe Guerini nicht. Der hagere Mann aus Gazzangia bei Bergamo in Norditalien stößt keine Kampfansagen aus, und er trägt auch nicht lauthals große Ambitionen vor sich her. Wenn man ihn nach seinen Zielen befragt, wiegelt er eher ab. Der Mannschaft, Team Telekom, der er seit 1999 angehört, möchte er dienen, ein guter Helfer sein. Ja, natürlich würde er auch gerne noch einmal eine Etappe bei einer großen Rundfahrt gewinnen, aber nur wenn es ins taktische Konzept seines Teamchefs passe.

Dabei hat Guerini im Radsport Dinge erreicht, von denen die meisten Profis nur träumen. 1997 und 1998 war er Dritter beim Giro d’Italia; vor allem aber gewann er 1999 die klassischste aller Bergetappen bei der Tour de France: die Etappe nach L’Alpe d’Huez. Der Sieg dort verleiht einem Rennfahrerleben fast ebenso viel Glanz wie ein Tour-Gesamtsieg. Wer sich die 21 Kehren von Bourg d’Oisans am schnellsten zur Skistation hinaufquält, hat seinen Platz im Radsportolymp gewiss. Hier fand 1952 die erste Bergankunft der Tour-Geschichte statt, die der legendäre Fausto Coppi gewann. Seither möchten es ihm Generationen von Fahrern gleichtun: Selbst Jan Ullrich formulierte vor dem diesjährigen Tour-Start den Wunsch, hier einmal zu gewinnen, vielleicht schon an diesem Sonntag. In jedem Fall möchte er hier keine Zeit auf Lance Armstrong verlieren, der 2001 in L’Alpe d’Huez siegte. Denn, so Ullrichs Teamchef Rudy Pevenage: „Wenn Armstrong am Sonntag mit zwei Minuten Vorsprung gewinnt, ist die Tour gelaufen.“

Kaum einer siegte jedoch so dramatisch in L’Alpe d’Huez wie 1999 Giuseppe Guerini. Eigentlich hatte Walter Godefroot den Kletterspezialisten eingekauft, um Jan Ullrich dabei zu helfen, zum zweiten Mal die Tour zu gewinnen. Doch Jan Ullrich hatte sich in jenem Jahr bei der Deutschland-Rundfahrt das Knie verletzt, war gar nicht am Start. Um die Farben von Telekom hochzuhalten, bekamen deshalb andere im Team einen Freifahrtschein, ihr Glück zu versuchen. Auf der 10. Etappe, nach 217 von 220 Tageskilometern und nach 11 der 14 Kilometer des Anstiegs nach L’Alpe d’Huez, nahm Giuseppe Guerini seinen ganzen Mut zusammen und befolgte die Order zur Attacke. Der Mann, der laut Teamchef Godefroot, „so still ist, dass man gar nicht merkt, dass er da ist“, ging aus dem Sattel und strampelte der Meute davon, inklusive Lance Armstrong. Doch 800 Meter vor dem Ziel bekam Guerini die Kehrseite des hautnahen Fankontakts zu spüren, der diese Etappe seit je auszeichnet. Plötzlich stand ein Fan mitten auf der Straße und unterschätzte durch den Sucher seiner Kamera, wie nah Guerini ihm schon war. Die beiden kollidierten, Millionen von Zuschauern an den Bildschirmen stockte der Atem. Doch Guerini stand auf, schüttelte sich, schwang sich wieder in den Sattel und verdiente sich die Ehre, die jedem Sieger in L’Alpe d’Huez zukommt: Seither ist eine der Kehren hinauf zu dem 1.860 m hoch gelegenen Retorten-Ferienort nach ihm benannt.

Seither ist es aber auch still geworden um Giuseppe Guerini, noch stiller als davor. Erst bei der diesjährigen Tour de Suisse machte er wieder auf sich aufmerksam, als er hinter seinem Mannschaftskollegen Alexander Winokurow Gesamtzweiter wurde. Doch selbst diese Leistung sicherte ihm keinen Platz im Tour-Aufgebot von Telekom – erst als Paolo Savoldelli sich eine Woche vor dem Prolog krankmeldete, rückte Guerini nach.

Das war natürlich nicht viel Zeit, um sich über Ziele bei der Tour Gedanken zu machen. Etwa darüber, ob er gerne seinen Sieg in L’Alpe d’Huez wiederholen würde. Eigentlich gäbe die neue Ausrichtung der Telekoms – die Zielsetzung, mit Angriffslust und Courage zu begeistern – ihm die Freiheit dazu. Doch Guerini sagt: „Meine Rolle ist die gleiche geblieben. Ich bin da, um meine Kapitäne zu unterstützen.“ Aber vielleicht hat er ja an einer der 21 Kehren eine Intuition, wie 1999. Die Form dazu hat er: „Ich glaube, ich bin genauso stark wie 1999“, sagt er. Und denkt einen Augenblick lang selbst darüber nach, was das bedeuten könnte.