: berliner szenen Um den Schlaf gebracht
Fragen in der U-Bahn
Es ist fies, Leute in der U-Bahn mit schwierigen Fragen zu belästigten. Wo kann man sonst so gut dösen? U 8, Richtung Wittenau, Station Heinrich-Heine-Straße: Die Lider heben sich, der Blick fällt auf ein Plakat: Ein Smiley ohne Smiley-Lächeln, dafür mit Hitlerbärtchen. Darunter die Frage: „Täter?“ Ein anderer Smiley mit Augenklappe daneben. Darunter die Frage: „Opfer?“ Beworben wird das Theaterstück „Stauffenberg“.
Ungewollt springt das Freizeit-Semiologenhirn an: Hitlerbärtchen = Hitler = Täter, Augenklappe = Stauffenberg = Opfer. Alles klar, denkt man und döst beruhigt weiter. Aber einige Stationen später: Dasselbe Plakat – doch diesmal sind die Fragen vertauscht. Hitler = Opfer? Stauffenberg = Täter? Oh je, denkt man, brandaktuelle Diskussion! Legitimität von Tyrannenmord, Shakespeare, Irakkrieg. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Ab jetzt an jeder Station die gleichen Plakate – im ganzen U-Bahn-System! Mit unglaublicher Penetranz drängen sich die Fragen ins Bewusstsein: Wer ist Opfer? Wer ist Täter? Und wer generiert diesen Hype, der letzten Endes dazu führt, dass der rechtschaffene Berliner nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden kann?
Am Abend sitzen in der beworbenen Premiere lauter Journalisten im Schiller-Theater. Alle wollen wissen: Wer ist Opfer? Wer ist Täter? Es gibt aber nur ein Stück über Stauffenberg, das zwischen Heldenkitsch und Psychoquark hin- und hergurkt. Nichts Brandaktuelles. Kein Irakkrieg. Langsam kommt einem die Erkenntnis von des Rätsels Lösung: Dramatiker + Regie + Schauspieler = Täter, Zuschauer = Opfer. Sofort lässt auch die Nervosität nach. Der Typ von der DPA ist auch schon eingeschlafen. Ist ja fast wie in der U-Bahn.
TIM ACKERMANN
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