Emotionen gibt es nicht einmal bei Kohl

Gerade mal 40 Prozent der Wahlberechtigten wollen bei der Europawahl am Sonntag ihre Stimme abgeben. Entsprechend lustlos schleppt sich der Wahlkampf dahin. Vor allem bei der SPD. Nicht einmal der CDU-Altkanzler kann die Linke mobilisieren

von STEFAN ALBERTI

Die Zahlen gehen auseinander. 60 Prozent sollen es sein. Oder sogar 80. Sagen wir einfach mal: Zwei von drei Gesetzen in Deutschland haben ihren Ursprung in Brüssel und Straßburg. Schizophrenerweise interessiert das nur eine Minderheit. Kaum zwei von fünf Berlinern wollen am 13. Juni zur Europawahl gehen. Ähnlich müde verläuft der Wahlkampf. Auf Plakaten und bei Kundgebungen dient Europa den Parteien vorrangig als Aufhänger für Bundes- und Landespolitik. Man reagiere halt auch auf das geringe Interesse der Wähler an Europa, heißt es gelegentlich.

Es gibt Schlüsselszenen für die Trägheit des Wahlkampfs. Mittwochabend vergangener Woche etwa. Die Berliner CDU hat nach ihrer Bundeschefin Angela Merkel ein zweites Schwergewicht aufgefahren und Exkanzler Helmut Kohl nach Steglitz gebracht, auf den Kranoldplatz. Das ist zwar christdemokratisches Herzland. Und doch kommt es überraschend, dass es nicht einen Pfiff gibt, als die Union mit Kohl – zwar mit 74 in die Jahre gekommen, doch immer noch die Antifigur der Linken – die Nationalhymne singt. Besser als die Nationalmannschaft, schlechter als die Fischer-Chöre, aber ohne Buh.

Keine Jusos mit Protestplakaten, keine Attacler, keine Autonomen weit und breit zu erkennen, auch nicht sichtbar in den grünen Minnas, die samt zahlreichen Polizisten den Platz säumen. Da würde man sich ja fast fragen, ob man was falsch gemacht hätte, meint ein junger Christdemokrat.

Kohl kann ungestört erzählen von „diesem Außenminister, der früher Straßentraining in Frankfurt betrieben hat“. Rund eineinhalbtausend Menschen zieht er auch sechs Jahre nach seiner Abwahl 1998 auf den Kranoldplatz. Bei Merkel neun Tage zuvor auf dem Wittenbergplatz sollen es deutlich weniger gewesen sein.

Ein einziges Protestplakat ist schließlich doch zu sehen, versteckt hinter der Bühne. Ein schnauzbärtiger Mann fordert darauf die Union auf, das C aus ihrem Namen zu streichen, weil sie keine christliche Politik mache. Mangels reagierender Christdemokarten müssen zwei vielleicht zehnjährige Mädchen als Zuhörer herhalten.

Je nach Position ist der Kohlauftritt High- oder Lowlight des Berliner Europawahlkampfs, in jedem Fall das Extrem. Dabei fahren auch andere ihre Promis auf. Die Berliner Grünen etwa bieten Daniel Cohn-Bendit. Die Nummer zwei ihrer Bundesliste zeigt sich mit dem hiesigen Spitzenkandidaten Michael Cramer, Renate Künast ebenfalls, und auch der von Kohl angegangene Außenminister war für diese Woche im Gorki-Theater angekündigt.

Die SPD hingegen vermittelt den Eindruck, die Wahl am 13. Juni und die zu erwartende Schlappe möglichst schnell hinter sich bringen zu wollen. „Drücken wir es mal so aus“, sagt ein Funktionär, „die Mobilisierung fällt ziemlich schwer“. Mobilisierung heißt: Leute finden, die Infostände auch im Regen aufbauen, die Wahlwerbung auch noch verteilen, nachdem sie ein Dutzend Mal „Brauch ich nicht“ gehört haben.

Eine jüngere Umfrage sieht die CDU in Berlin bei 32 Prozent, die SPD bei 25. Gemessen am Europawahl-Ergebnis von 1999 – 35 Prozent – ist das für die Union schlecht, gemessen am Debakel der Berlin-Wahl 2001 mit 23 Prozent hingegen gut. Wahlgewinner sind bislang die Grünen, die mit 21 Prozent deutlich über ihrem 99er-Resultat von 12 Prozent liegen.

Politexperten führen das geringe Interesse an der Europawahl auch darauf zurück, dass es beim Wahlgang nicht mehr allzu viel zu entscheiden gibt. Denn dass etwa die Europaabgeordneten von SPD und CDU, Dagmar Roth-Behrendt und Ingo Schmitt, wieder im Parlament sitzen und der FDP-Mann Beißwenger es nicht schafft, ist über sichere beziehungsweise chancenlose Listenplätze schon entschieden, bevor die erste Stimme ausgezählt ist.

Auch wenn die Mehrzahl der weit über 20.000 Wahlplakate in Berlin Gesichter zeigt und eine Personenwahl suggeriert: Bei der Europawahl gilt allein das Verhältniswahlrecht. Das heißt: Zur Wahl stehen allein Parteien, die intern bundesweite Kandidatenlisten festgelegt haben. Nur die CDU tritt – wegen der CSU in Bayern – mit 15 Länderlisten an.

Auf dem Wahlschein stehen zudem nur die ersten zehn Plätze. Deshalb muss man etwa bei den Grünen in der Wahlkabine erst mal suchen, bis der Berliner Spitzenkandidat Cramer als Nummer zehn seiner Bundespartei auftaucht.

Überhaupt, der Wahlzettel. Zweiundzwanzig Parteien und Bündnisse stehen drauf, neben den im Bundestag vertretenen Parteien etwa die Partei für Soziale Gleichheit – Sektion der Vierten Internationale, das Zentrum, die Christliche Mitte. Der Blick bleibt an der DKP hängen. Wieso kandidiert da Nina Hagen? Ach nein, schlecht gelesen: Nina Hager – Diplom-Physikerin, nicht Sängerin.