Prosa der Bilanzen

Papierverluste und fiktive Gewinne: Der Vodafone-Konzern hat ein literarisches Glanzstück vollbracht

„Story Management“ ist ein Begriff aus der Wirtschaftswissenschaft. Zum ersten Mal tauchte er in den 90er-Jahren in den USA auf, neuerdings kommt er auch in Deutschland in Mode. Vereinfacht gesagt geht es darum, den Zusammenhang zwischen Erzählungen und wirtschaftlichem Handeln zu untersuchen: Inwieweit bestimmen Geschichten den Erfolg eines Unternehmens?

Der Gedanke, dass Gründungslegenden wie zum Beispiel die Geschichte von Steve Wozniak, der den ersten Apple-Computer in einer Garage zusammengeschraubt haben soll, eng mit dem Aufstieg eines Unternehmens verbunden sind, leuchtet sofort ein. Aber „Story Management“ meint auch, die narrative Produktion nie abreißen zu lassen, also immer wieder neue Geschichten zu erfinden und in schwarze Zahlen zu verwandeln. Besonders eindrucksvoll konnte man das während des Börsenbooms verfolgen, als Anleger und Kapitalgeber sich bereitwillig durch talentierte Märchenerzähler wie Thomas Haffa von EM.TV und ihre zuweilen frei erfundenen „Equity Stories“ vom zukünftigen Erfolg einer Aktiengesellschaft überzeugen ließen.

Auch das Mobilfunkunternehmen Vodafone hatte im Jahre 2000, als es um die Übernahme des Mannesmann-Konzerns kämpfte, eine Menge zu erzählen. Eine überraschende Pointe hat das Unternehmen allerdings bis zuletzt aufgespart: Nachdem der Kurs der Vodafone-Aktien nach der Fusion nicht wie erwartet gestiegen, sondern gefallen sei, habe man 50 Milliarden Euro verloren, erklärt das Unternehmen nun und versucht, den prosaisch als „Papierverlust“ bezeichneten Betrag beim Düsseldorfer Finanzamt abzuschreiben.

Christine Scheel, die Finanzexpertin der Grünen, findet das Vorgehen des Konzerns dreist: „So einfach kann man das nicht rechnen.“ Aber dafür kann man es einfach und schön erzählen – schließlich sind „auch die Bilanzen und die Verlust- und Gewinnrechnungen nur eine besondere Art von Prosa“, wie der Schriftsteller Burkhard Spinnen im vergangenen Jahr in „Der schwarze Grat“ feststellte, seiner Biografie eines gebeutelten Unternehmers. Auch der Leidensweg der armen Vodafone-Aktie, die zunächst bei 353 Euro stand, plötzlich nur noch 309 Euro wert war und schließlich gerade mal bei traurigen 200 Euro stand, ist eindrucksvoll und anrührend, und der dramaturgische Kniff, die Mannesmann-Übernahme zunächst als zukunftsweisendes Erfolgsprojekt und dann als gigantisches Verlustgeschäft zu beschreiben, ist ein Fall von besonders geschicktem „Story Management“.

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Aktienkurse, um die es hier geht, mehr oder weniger fiktive Werte sind, die nur „auf dem Papier“ bestehen, könnte man sagen, dass hier ein kleines literarisches Glanzstück vollbracht worden ist. Wenn Vodafone die anvisierten 25 Milliarden Euro Steuerersparnisse als Gegenleistung für ihre Story nicht zugestanden werden, sollte also unbedingt ein Literaturpreis für „Economic Fiction“ ausgelobt werden. Die besten Geschichten entstehen heute offenbar nicht in den Arbeitszimmern der Schriftsteller und Schriftstellerinnen, sondern an den Konferenztischen in den Vorstandsetagen der Weltkonzerne.

KOLJA MENSING