Musik gegen die Einsamkeit

Hamburg ist einer der wichtigsten Kristallisationspunkte südamerikanischer Kultur in Europa. Das behauptet zumindest Antonio Candela.Darum publiziert der Peruaner das Kulturmagazin „Agenda Latina“ und gibt Deutschlands Latinogemeinde damit eine Stimme

von JAKOB KIRCHHEIMER

Obwohl die wenigsten Hamburger davon wissen, ist die Hansestadt einer der wichtigsten Kristalisationspunkte südamerikanischer Kultur in Europa. Das behauptet zumindest Antonio Candela, der Chefredakteur und Herausgeber der bundesweit erscheinenden Agenda Latina, Deutschlands erstem Kulturmagazin, das sich speziell an immigrierte Künstler aus Lateinamerika richtet. Seit Januar produzieren er und seine fünf Mitstreiter eine schwer greifbare Mischung aus Servicemagazin, Salsa-Fanzine und politischem Forum, dessen Auflage sich seither auf 10.000 Stück verzehnfacht hat.

Durchwindet man Candelas Büro zwischen Aktenordnerstapeln, Kopierern, Druckmaschinen und überall herumliegenden Tonerkassetten zum Computer, drängen sich Parallelen zum Aufbau des Blattes geradezu auf. Da stehen die Konzert- und Theaterankündigungen zwischen den Essays, Rezensionen zwischen den Kurzgeschichten, mittendrin ist hier und da Werbung verteilt. Das Ganze ist in einem babylonischem Stimmengewirr aus spanisch, portugiesisch, englisch und deutsch verfasst. Candela indes empfindet das Durcheinander nicht als Manko, sondern als Privileg. „Ich weiß, ich bin ein Chaot, und einige Leute meinen, dass ich das Blatt aufräumen sollte. Doch solange es funktioniert, will ich es auch nicht ändern, so ist der Charakter Lateinamerikas.“ In der Tat scheintdas Konzept sehr gut zu funktionieren. Die Auflagensteigerung beweist, dass der Peruaner eine Marktlücke gefunden hat: Allein in Hamburg zählt die Latinogemeinde nach Candelas Schätzung um die 10.000 Mitglieder. Eine Kulturszene hat sich entwickelt, die medial allerdings kaum Beachtung findet.

Dabei ist es gerade die Diaspora, die den global meistbeachteten Beitrag zur lateinamerikanischen Kultur leistet. So ist bei genauerer Betrachtung der scheinbar originär südamerikanische Musikexportschlager Salsa – auf deutsch: feurige Soße – eine Art Kulturreimport: Die panamerikanische Soße wurde nämlich nicht etwa in Rio oder Santiago, sondern tausende Kilometer nördlich in den puertoricanischen Straßenzügen der Bronx gekocht und daraufhin in Südamerika verbreitet. Ein Prozess, der sich nach Candelas Einschätzung in Deutschland wiederholt. „In den Hamburger Fußgängerzonen stehen Peruaner, die traditionelle Musik aus Ecuador spielen, die sie erst hier gelernt haben. Viele kommen in Amerika und Europa auch mit dem Jazz in Kontakt und nutzen ihn, um indigene Musiktraditionen zu transportieren.“

Wenn der 55-Jährige von Salsa spricht, meint er gleichzeitig fast immer Politik und seine eigene Biographie, die untrennbar mit beidem verbunden ist. Er hat viel zu erzählen und fast immer eine Anekdote auf Lager. Von den Kommilitonen in Lima, von den ersten regimekritischen Demonstrationen, von Partys und Ruben Blades, der die Protestmusik in die Arbeiterviertel trug. Aber auch von politischer Verfolgung, Exil und Einsamkeit in Deutschland und dem Versuch, sich politisch zu artikulieren. Das Wort Salsa wird zu einem Code, dessen Bedeutung Lichtjahre von dem seichten Gute-Laune-Musik-Image entfernt ist, das die Latinopop-Wellen in Deutschland etabliert haben. Candela: „Salsa ist ein gutes Gleichnis, um unsere Kultur insgesamt zu beschreiben. Alles ist voller Widersprüche und findet doch zusammen. Es ist ein Mittel gegen die Einsamkeit.“