Im Bus entgleisen

Bremen surreal: Bei der Rundfahrt-Performance „Ersatzverkehr“ verlieren auch Zuschauer ihre Rollensicherheit und die Stadt wird zum Freiraum

Die Stadt und ihr Begleittext sindnicht mehr synchronZurück zur alten Siedlungsform – oder vorwärts zur Poesie des Nicht-Ortes?

Nichts Öderes als eine guided Tour im Bus: Die Stadt bleibt dabei so unberührbar und so unberührt, als glitte sie über einen Bildschirm, zuverlässig untermalt vom Murmeln sanfter Information. Behaglich richtet sich der Touri ein in seiner rollenden Wohnstube. Hier kann nichts passieren.

Umso verstörender, wenn etwas geschieht: Eine Mumie springt aus dem Chemo-Klo. Die Reiseleiterin ist überfordert, versucht die ganz von Verband gehüllte Gestalt zu fangen, nähert sich ihr, schreckt dann doch davor zurück, sie zu berühren. Ein Verhältnis gegenseitigen Entsetzens. Die Mumie klemmt sich an die Windschutzscheibe, halb Spiderman halb Horrorfigur. Und als der Teufel aus der Kiste schließlich, mitten auf der Doventor-Kreuzung, aus dem vollklimatisierten Gefährt geworfen ist, hat das adrette Fräulein in weißer Bluse die Orientierung verloren, sucht wieder anzuknüpfen an die Route der Routine. Doch vergeblich. So geschehen ist das bei der Performance „Ersatzverkehr“, einem ganz auf Bremen zugeschnittenen Gastspiel des Berliner Was-ist-das-Ensembles im Rahmen des FreiRäumen-Festivals. Dessen Konzept: an ungewöhnlichen, unerwarteten Orten die Stadt als Bühne zu nutzen. Veranstalters sind, kurz vor ihrem Einzug, die Mieter der Schwankhalle: die Steptext-Dance Company, die mit der Wiederaufnahme des furiosen Stücks „Entre chien et loup“ am Donnerstag im Parkhaus am Brill den Auftakt machten; die im MIB-Verein organisierte Jazz-Szene; und das Junge Theater.

Gelächter. Die Stadt und ihr Begleittext sind nicht mehr synchron: Immer stockender trägt die Fremdenführerin ihreVerweise und Erläuterungen vor. „Links“ – der Arm zeigt aus dem Fenster, die Augen sind ins Publikum gerichtet, irren dann ins Dämmerlicht, nach draußen, „nein“ – Selbstkorrektur – „rechts sehen Sie…“ – Pause – „sehen Sie den –– Schütting??!“

An dieser Stelle der Nordstraße, kurz vor dem Waller Ring, blättert der einst lindgrüne Putz, die Fenster der Stockwerke über der Gastronomie sind rot erleuchtet. Der Fahrer biegt in den Hafen ein. Irgendwann will die Lotsin Passanten nach dem Weg fragen. Am Baugitter wuchert büschelweise Gras, Inseln aus Sand haben sich auf dem Teer gebildet. Die junge Frau tritt auf die verlassene Straße, geht ein, zwei Schritte. Zischend schließt sich die Bustür. Gnadenlos beschleunigte Abfahrt. Ein Fahrgast – es ist wirklich ein Zuschauer – stürmt nach vorne, und erkundigt sich, leicht erregt, was denn jetzt geschehe. „Die ist ja draußen geblieben!“

Das ist, genau besehen, ein Lob für die Schauspieler: Das Publikum ist sich seiner eigenen Rolle nicht mehr ganz sicher. Offenbar war die Illusion der Stadtrundfahrt so stark, dass die Fremdenverkehrserwartungsmuster anspringen. Das macht die Performance so komisch, erweist sich aber als mehr, als nur ein guter Einfall. Denn jetzt führt Unerwartetes zu Kurzschlüssen. Alles beginnt zu gleiten, seltsame Personen tauchen aus dem urbanen Nichts auf, steigen zu, steigen aus, die Stadt schwindet – Brachen, Fehlplanungen, endlose Reihen von Einfamilienhäuschen, stillgelegte Handelsplätze, überall wuchert die Auflösung. Das ist nicht unkritisch und man mag es als Appell verstehen: Als Aufruf, zurückzukehren zur traditionellen europäischen Siedlungsform. Doch gleichzeitig, versetzt mit Zitaten aus der Odyssee, entfaltet die Irrfahrt surreale Schönheit. Sie feiert die Poesie des Nicht-Ortes. Eines Freiraums, der Bremen heißt.

Benno Schirrmeister