Ein bisschen Macht für alle

Nicht nur Fragen stellen, sondern auch praktische kollektive Antworten geben: Das Filmfestival „ueber Macht – Kontrolle, Regeln, Selbstbestimmung“ setzt sich bis Mitte Februar im Metropolis mit den verschiedensten Aspekten der Macht auseinander – um deren Ungerechtigkeiten gemeinsam offen zu legen, zu kritisieren und zu verändern

„In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?“, fragt seit drei Jahren die Initiative „Die Gesellschafter“ der Aktion Mensch. Die Frage ist ernst gemeint und wird laut gestellt. Und sie wird beantwortet. Über 30 bundesweite und über 1.000 regionale und lokale Organisationen und Initiativen beteiligen sich an der bislang größten Kampagne des Vereins, um nachhaltig Diskussionsprozesse über und Auseinandersetzungen mit drängenden sozialen und gesellschaftlichen Themen anzuregen und zu fördern und schließlich Konzepte für eine zukünftige „Gesellschaft des Miteinanders“ zu entwickeln.

Im Rahmen der beiden bundesweiten Filmfestivals „ueber arbeit“ und „ueber morgen“ haben sich „Die Gesellschafter“ in den letzten beiden Jahren der Themen Arbeit und Zukunft angenommen. Nun stellen sie mit „ueber Macht“ bis zum Herbst in 120 Städten in ganz Deutschland die Machtfrage: Was oder wie ist die Macht überhaupt? Welche impliziten und expliziten Strukturen weist sie auf, welchen Tabus unterliegt sie, wohinter verschwindet sie? Welche Beziehungen hat sie zur Herrschaft und zur Legitimität? Wie und warum wird versucht, sie zu kontrollieren? Welche Regeln sind nötig, welche unnötig? Und welche Wege zu mehr individueller und kollektiver Selbstbestimmung sind schließlich die besten?

Zu sehen sind im Rahmen von „ueber Macht“ bis Mitte Februar 13 Dokumentarfilme, die die unterschiedlichsten Facetten der Macht ansprechen: ihre Ambivalenz, ihre Verlockungen und ihr Missbrauch, ihre repressive und ihre produktive Dimension, ihre unübersehbaren und ihre unsichtbaren Seiten. Wie eine Krankheit, die selbst ohne ihre Verbindung zu den vielfältigsten Formen der Machtausübung gar nicht verstanden werden kann, langsam die Kontrolle über einen Körper übernehmen kann, zeigt etwa heute Abend Maria Teresa Camoglios aktuelle Doku „Die dünnen Mädchen“. Die acht jungen Frauen zwischen 18 und 29 Jahren leiden seit langem an Essstörungen, hungern bis zur Selbstauflösung und können einfach nicht damit aufhören. Immer tiefer frisst sich die Magersucht in ihr Leben. Aber wo Macht ist, ist auch Widerstand. Camoglio dokumentiert nicht nur die langsame Unterwerfung des Selbst, sondern auch dessen Befreiung: den schwierigen Kampf der jungen Frauen, die Kontrolle und Selbstbestimmung über ihren Körper und ihr Leben wieder zurückzugewinnen (22. 1., 19.30 Uhr).

Auch „Die Schuld, eine Frau zu sein“ des pakistanischen Regisseurs Mohammed Naqvi erzählt die Geschichte einer schmerzhaften Selbstbefreiung. Nachdem die Pakistanerin Mukhtar Mai als Strafe für ein angebliches Verbrechen ihres Bruders von den Männern des benachbarten Clans vergewaltigt worden ist, tötet sie sich nicht aus Scham selbst, wie es der ihr zugedachten Rolle entsprechend üblich ist. Hartnäckig kämpft sie gegen alle Widerstände an und bringt die Täter schließlich vor Gericht. Mit der ihr zugestandenen Entschädigung baut sie anschließend in ihrem Dorf die erste Schule für Mädchen auf: Wissen und Kommunikation als beste Mittel, sich in der patriarchalen Gesellschaft zu schützen. Und sie zu verändern (29. 1., 19 Uhr).

Welche Risiken eine aus der Kontrolle geratene Kontrolle birgt und welche kafkaesken Dimensionen ihr Zugriff plötzlich auch für den im Machtgefüge eigentlich gut dastehenden Einzelnen annehmen kann, macht der Film „Strange Culture“ der Filmemacherin Lynn Hershman Leeson über den bizarren Fall des US-amerikanischen Künstlers und Kulturwissenschaftler Steve Kurtz deutlich. Nach dem plötzlichen Herztod seiner Frau sieht sich Kurtz, außerordentlicher Professor für Kunst an der Universität von Buffalo und Gründungsmitglied der international anerkannten Kunst- und Theatergruppe „Critical Art Ensemble“ (CAE), dem Vorwurf ausgesetzt, ein Bio-Terrorist zu sein. Kurtz hatte gemeinsam mit seiner Frau Hope eine Ausstellung für das Museum of Contemporary Art in Cleveland vorbereitet, als diese in der Nacht des 11. Mai 2004 im Schlaf an Herzversagen starb. Die kurz nach Kurtz’ Notruf eintreffenden Sanitäter unterstellten dem medienkritischen Aktivisten und Bio-Künstler – der mit dem CAE unter anderem zur Bio- und Gentechnologie arbeitet und für seine Werke auch lebendes Material verwendet, das er mit biotechnologischen Methoden bearbeitet – sein Atelier sei ein gefährliches Labor und alarmierten das FBI. In der Folge durchsuchten Agenten der Bundesbehörde in Hazmat-Anzügen, die Schutz vor biochemischen Gefahren bieten sollen, die gesamte Wohnung und beschlagnahmten seinen Computer, Bücher, seine Katze und sogar den Leichnam Hope Kurtz’. Er wurde verhaftet und gemeinsam mit seinem langjährigen Mitarbeiter Dr. Robert Ferrell, dem ehemaligen Leiter der Genetischen Abteilung an der Pittsburgher Uni, des kriminellen Missbrauchs öffentlicher Post- und Kommunikationseinrichtungen angeklagt. Beiden drohten 20 Jahre Haft, erst am 21. April des letzten Jahres befand ein Richter, dass die vorgeworfenen Taten, selbst wenn alle Vorwürfe zutreffend seien, kein Verbrechen darstellten (30. 1., 19 Uhr). ROBERT MATTHIES

Do, 22. 1. – Di, 10. 2., Metropolis, Steindamm 54; Infos und Programm: www.diegesellschafter.de/uebermacht, www.metropoliskino.de