Der Tod war sein Leben

Als Pathologiepfleger im Kreiskrankenhaus zu P. wusste Sikora stets, was zu tun war

„Dieses Beinging ganz alleinin das Paradies hinein“

Das Erste, was ich als Zivi im Kreiskrankenhaus zu P. sah, waren Lungenschatten, Magendurchbrüche, Leber- und Nierenschäden, geborstene Knochen, und alle zwei Wochen ein Delirium Tremens. Ich schob sie zum Röntgen und wieder zurück. Acht Stunden am Tag. Nach zwei Wochen sah ich erstmals dem Tod ins Auge. Er hat bekanntlich viele Namen. Im Kreiskrankenhaus zu P. hieß er Sikora. Wenn jemand sagte, „Drei Sikoras auf der A7“ oder „Sikora auf Station 5“, wusste man, in P. wurde gestorben. Sikora war Pathologiepfleger, ein großer schwerer Mensch, der kaum ein Wort sprach. Was einerseits an seiner Hasenscharte lag, anderseits daran, dass es im Angesicht des Todes tatsächlich wenig zu sagen gibt.

War es mal wieder so weit, betrat Sikora verpackt in makellos gestärktem Weiß das Krankenzimmer, schritt grußlos durch die Gasse bettlägrigen Elends und verschwand hinter dem Paravent, der hier wie anderswo die noch Lebendigen von den Toten schied. Er zog dem Leichnam behutsam die Decke über den Kopf und schob ihn gemessenen Schrittes hinaus auf den Flur. Wer ihm auf seinen Wegen begegnete, senkte die Stimmen zu einem Flüstern. Mancher schlug verstohlen ein Kreuz. Sikora schien es nicht wahrzunehmen. Gleichmütig rollte er seine Fracht zum Fahrstuhl, drückte auf den Knopf und glitt in den Keller, wo er den leblosen Körper in der Kühlkammer verstaute oder auf einem der Seziertische platzierte.

Ich traf Sikora zum ersten Mal, als ich auf der Inneren eine alte vom Krebs zerfressene Dame namens Schild zum Röntgen holen wollte. Ich fuhr die zerbrechliche Person fast jeden Tag dorthin. Weniger aus diagnostischen Gründen. Der Röntgenchef pflegte seine mediokre medizinische Existenz in der Kleinstadt P. durch die Erstellung eines tomographischen Kompendiums klinischer Defekte zu kompensieren. Aber die alte Dame war nicht auf ihrem Zimmer. „Sikora“, sagte die Stationsschwester nur und zeigte auf den Pathologiepfleger, der ohne Kundschaft vor dem Fahrstuhl stand. Ich folgte dem schweigsamen Mann nichtsahnend in die Katakomben bis vor die Kühlkammer. Er öffnete sie und zeigte auf ein Dutzend Stahltröge, aus denen wie mit Raureif überzogene Haarbüschel ragten. „Frau Schild?“, fragte ich bange. „Jedermann“, nuschelte Sikora.

Wenn nicht gestorben wurde, hockte Sikora in einer Ecke des gekachelten Seziersaales, kaute Mettbrötchen und brütete über dem Sportteil der Bild-Zeitung. Die ausgelesenen Exemplare stapelte er an Wand neben einem großen Stahlschrank, der diverse chirurgische Instrumente, einen Vorrat Bier und eine Literflasche Weizenkornbrand enthielt.

War eine Vivisektion angefallen, nahm Sikora einen gewaltigen Schluck aus der Schnapsflasche, dann knüllte er das Altpapier zu handlichen Paketen und stopfte sie in die ausgeweidete Leiche, bis sich eine anatomisch vertretbare Form ergab. Anschließend nähte er das Bündel zu, wischte Blut und Organreste aus der metallenen Sektionswanne und widmete sich wieder der Bild, dem Bier oder einer Mettsemmel. So vergingen die Jahre. Kanzler kamen und gingen, P. verlor das Sinterwerk, die heimische Privatbrauerei wurde zur Kommanditgesellschaft und Deutschland wiedervereinigt. Nur der Tod hockte unverändert in Gestalt von Sikora im Keller des Kreiskrankenhauses. Mit der Zeit wurde Sikora allerdings ein wenig wunderlich. Es begann damit, dass er die Toten zwar ordnungsgemäß aus den Zimmern in den Aufzug bugsierte, aber immer öfter vergaß, sie im Keller wieder auszuladen. Das heißt, die Leichen rumpelten stunden-, ja oft tagelang durch den Fahrstuhlschacht, was nicht nur den Krankenhausbetrieb erheblich behinderte. Vor allem die Besucher waren durch die unverhoffte Begegnung mit den letzten Dingen echauffiert. Und Sikora wurde mehr als einmal abgemahnt.

Eines Tages geriet eine Frau im nahe gelegenen Mittellandkanal unter die Schiffschraube eines Kohlenfrachters. Sie verlor ein Bein. Die Extremität wurde geborgen und bevor man sie annähte, dem Röntgenchef überbracht. Er machte ein paar schöne Aufnahmen für seine Sammlung, dann wurde Sikora gerufen, um das Gebein in den OP zu bringen. Dort wartete man acht Stunden lang. Vergeblich. Die Frau bekam letzlich eine Prothese. Am nächsten Tag zur Rede gestellt, druckste der Pathologiepfleger lange herum, ehe er an- und zugab, das Bein sei von ihm, Sikora, bestattet worden. Auf einer Lichtung im Vöhrumer Forst. Dort fand es sich tatsächlich in ein Meter Tiefe, geschützt vor Nässe und Getier durch zwei Plastiktüten der Firma Tengelmann. Sogar ein Kreuz hatte Sikora geschnitzt und die Worte eingraviert: „Dieses Bein ging ganz allein in das Paradies hinein“. Als man das gute Stück ausgrub, stieß man auf gut drei Dutzend weiterer Skeletteile. Es fanden sich auch weitere Kreuze mit Sprüchen wie: „Hier ruht ein Arm incognito, den Rest begrub man anderswo“ oder „En gros oder Stück für Stück, der Herr nimmt alles gern zurück“. Sikora wurde entlassen, in Untersuchungshaft genommen und ein psychiatrisches Gutachten wurde bestellt. Drei Tage später fand man ihn stranguliert in seiner Zelle. Der Nachruf im Lokalblatt enthielt den schönen Satz: „Der Tod war sein Leben.“

DIETERICH ZUR NEDDEN