Chirac setzt auf Durchmarsch

Nach seiner Wahl im Mai 2002 mit 82 Prozent der Stimmen wollte er noch „Präsident aller Franzosen“ sein. Doch inzwischen betreibt der Staatschef knallharte rechte Machtpolitik

aus Paris DOROTHEA HAHN

Das nationale Psychodrama, in dem hunderttausende junger Franzosen fürchteten, unter die Fuchtel eines Rechtsextremen zu geraten, währte zwei Wochen. Am Ende stimmten 82 Prozent der Wähler für Jacques Chirac. Der Neogaullist, den die komplette Linke und ein beträchtlicher Teil der Rechten zuvor belächelt und bekämpft hatten und den viele am liebsten vor Gericht gesehen hätten, wurde der bestgewählte Staatschef Frankreichs seit Jahrzehnten. In das republikanische Aufatmen am Wahlabend hinein versprach Chirac: „Ich werde der Präsident aller Franzosen sein.“

Das war im Mai 2002. Ein gutes Jahr danach schickt sich der 82-Prozent-Präsident heute an, seinen neunten Nationalfeiertag im Elyseepalast zu feiern. An die Stelle der versöhnlichen Töne ist längst knallharte rechte Politik getreten. Chirac und seine im vergangenen Jahr gegründete rechte Einheitspartei UMP, die über absolute Mehrheiten in sämtlichen entscheidenden Gremien des Landes verfügt, holen nach, was in den Jahren von Kohabitation und schnellen Machtwechseln unmöglich war. Ihr Durchmarsch erinnert an die benachbarte Insel, wo zwei Jahrzehnte zuvor eine gewisse Margaret Thatcher ähnlich vorgegangen war.

Der Präsident aller Franzosen ist Chirac nur in der Außenpolitik geworden. Da hat er mit einer klaren Opposition gegen den US-amerikanischen Krieg im Irak sogar die Meisterleistung geschafft, nicht nur die überwältigende Mehrheit seiner Landsleute, sondern auch einen großen Teil der Erdbevölkerung zu überzeugen.

In allen anderen Bereichen blieben die Hoffnungen all jener enttäuscht, die gehofft hatten, Chirac würde die besonderen Umstände, die ihn im Mai 2002 an der Macht bestätigt haben, und den großen Anteil von Linken unter seinen Wählern bei der Amtsausübung berücksichtigen. Sie haben in den vergangenen 14 Monaten eine Ohrfeige nach der anderen eingesteckt: In der Sozial-, Bildungs- und Kulturpolitik, bei den Bürgerrechten und im Umgang mit der gewerkschaftlichen Opposition.

Das bislang schmerzhaftestes Stück Sozialabbau unter Chirac ist die „Reform“ der Renten, unter der die sozial Schachen am stärksten leiden werden. Im Herbst soll ihm ein weiteres Element folgen: die „Reform“ der Krankenversicherung. Rechte Durchmärsche gibt es auch bei der „Dezentralisierung“ der Schulen, hinter der sich nichts anderes als der Rückzug des Staates aus der Bildungsverantwortung verbirgt. Und bei den Streichungen in der Sozialversicherung für Theatermitarbeiter, die ein Drittel der Beschäftigten ins Abseits befördern wird.

Stellvertretend für die vielen Angriffe auf die Bürgerrechte steht die Politik von Innenminister Sarkozy. Er hat wieder spektakuläre Verhaftungen eingeführt – stets zum politisch opportunsten Zeitpunkt und vor laufenden Kameras. Und er hat ganz neue Tatbestände per Gesetz schaffen. Dank dieser ist es jetzt möglich, Prostituierte wegen „passiver Anmache“ vor Gericht zu stellen. Oder Menschenrechtler, weil sie papierlosen Einwanderern Unterkunft oder Essen zur Verfügung gestellt haben.

Diese Politik hat in den vergangenen Monaten für das Entstehen von sozialen Bewegungen gesorgt, die so stark sind, wie seit 1968 nicht mehr. Nicht einmal 1995, auf dem Höhepunkt der Streiks gegen eine andere Rentenreform waren so viele Menschen im Streik wie in diesem Frühsommer. Doch im Gegensatz zu 1995, als Juppé seine Reform zurückziehen musste, marschiert die Regierung unter Chirac durch. Sie hat die soziale Bewegung gegen die Rentenreform gegen die Wand laufen lassen. Und sie wiederholt diese Übung jetzt mit den protestierenden Schauspielern und Technikern der Theaterbranche.

Stur ist Chirac auch gegenüber José Bové. Nach seiner rechtskräftiger Verurteiltung zu zehn Monaten Gefängnis hätte nur der Staatspräsident den Bauerngewerkschafter begnadigen können. Für solche Gesten ist der 14. Juli, Jahrestag des Sturms auf die Bastille, bei dem die letzten politischen Gefangenen der Monarchie befreit wurden, das Datum. Doch Chirac, der sich auf internationalen Foren als Verteidiger einer „nachhaltigen Entwicklung“ gibt, begnadigte den Bauerngewerkschafter nicht. Er erließ ihm bloß lächerliche zwei Monate. Die Anhänger Bovés, von denen die meisten vor einem Jahr Chirac gewählt haben, werden diese Arroganz der Macht zu würdigen wissen.