Er weiß es vielleicht besser

„Ich bin kein Dichter“, grummelt der Soziologe, als er einen Brief von Jean-Luc Godard erhält. Der Dokumentarfilm „Pierre Bourdieu: Soziologie ist ein Kampfsport“ von Pierre Carles ist jetzt im Lichtblick-Kino zu sehen

Ziemlich genau in der Mitte von Pierre Carles’ Dokumentarfilm „Pierre Bourdieu: Soziologie ist ein Kampfsport“ kommt ein Postbote in Bourdieus Büro am Collège de France. Er reicht Bourdieu einen mittelgroßen Umschlag und meint lakonisch: „Ein Brief von Godard.“ Bourdieu stutzt, aus dem Off fragt der Filmemacher nach, „Jean-Luc Godard?“ „Ja“, sagt Bourdieu, der die drei Seiten überfliegt, die Stirn runzelt, den Kopf schüttelt und meint: „Ich verstehe es nicht.“ Er liest den Brief vor, der wirklich kryptisch ist, er gibt sich Mühe, dahinterzukommen, was Godard meint, schüttelt immer wieder den Kopf, seufzt: „Da sehen Sie, ich bin kein Dichter“, ist aber auch ungehalten und steckt den Brief zurück in den Umschlag.

Diese Szene ist der Höhepunkt des Films, weil sie das Bild, das sich insgesamt ergibt, einerseits verdichtet und andererseits auch die Grenzen des Aufklärers Bourdieu sichtbar macht. Viele Szenen des Films, meist Interviews und Begegnungen vergleichbarer Art, zeigen: Der Meister gibt sich sehr überzeugend nie als Meister, sondern als einer, der sich immer und überall um Verständnis bemüht. Die Annäherungsversuche auf offener Straße können noch so penetrant, die Fragen noch so dämlich sein, stets versucht Bourdieu, das Niveau zu heben, die Freundlichkeit zu wahren und das Gegenüber im Gespräch nicht nur über die Theorie, sondern auch über sich selbst aufzuklären.

Bourdieus kategorischer Imperativ lautet nämlich: Betrachte jede Position und den Standort einer jeden, die sie äußert, als sozial, historisch, kulturell bedingt! Und über dieses niemals ganz bewusst zu machende vielfache Gewordensein der sozialen Welt kläre dich und andere auf! „Sozioanalyse“ nennt Bourdieu das hier, in bewusster Anlehnung an die und Abgrenzung von der Psychoanalyse, der großen Theorie nicht des sozialen, sondern des individualpsychischen Unbewussten. Zweimal werden die Grenzen dieser „Methode Bourdieu“ im Film deutlich. Zum einen im Brief von Godard: Einer, der einfach so anders, nämlich nicht ganz kommensurabel, spricht, hat im radikal aufklärungsorientierten Weltbild des Soziologen keinen Platz – oder eben nur den des komischen Vogels.

Die andere Grenze ist gegen Ende des Films zu erleben. Von mehreren Seiten wird bei einer Podiumsdiskussion Bourdieu attackiert. Ein junger Mann namens Said aus der Banlieue ist darunter, der impliziert, dass der Soziologe gar nicht verstehe, was in der Wirklichkeit los ist. Und dass die Lage trostlos ist und auch bleibt. „Ich weiß das vielleicht besser als Sie“, erwidert Bourdieu und empfiehlt eine wissenschaftliche Studie seines Freunds und Kollegen Abdelmalek Sayad zur Lektüre.

Mit Defätismus hat Bourdieu keine Geduld. Das bessere Wissen, das man sozialanalytisch gewonnen hat, muss man in emanzipatorische Taten umsetzen. Gewiss nicht, indem man komische Briefe schreibt und kryptische Filme dreht wie Godard. Auch im Gespräch mit – ausgerechnet – Günter Grass, aus dem der Film Ausschnitte zeigt, weist Bourdieu dessen Kritik, dass seine Wissenschaft nicht sehr fröhlich sei, entschieden zurück. Die Lage ist ernst, man darf sich die Analyse durch subversiven Spaß nicht verderben. Dass auch in inspirierten Formen des Zweifels an der Wirksamkeit der soziologischen Vernunft ein Kritik- und Emanzipationspotenzial liegt, will er nicht sehen. Die List seiner Theorie liegt darin, die sozialen und kulturellen Gründe eines solchen blinden Flecks auch bei Bourdieu selbst benennen zu können. EKKEHARD KNÖRER

„Pierre Bourdieu: Soziologie ist ein Kampfsport“. Regie: Pierre Carles. Frankreich 2001, 146 Min. Der Film erscheint in der DVD-Edition von Suhrkamp und absolutmedien und läuft im Lichtblick-Kino