Die Ganzheit ist zerschreddert

Zischeln, flackern, brodeln: Was Liebe und Symmetrie war, ist Höllenfeuer und Schiefheit geworden in William Forsythe’ Choreografie „Decreation“. Die Berliner Festspiele haben das Stück um Schmerz und Ruhelosigkeit in die Stadt geholt

Selbstgerechtigkeit macht schief: Man sieht nur noch sich selbst und kein Außen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Man kann nicht zweimal dasselbe Stück Tanz des Choreografen William Forsythe sehen: Denn selbst wenn die Tänzer sich vorgenommen hätten, nur so genau wie möglich zu reproduzieren, was einmal verabredet war, ist der Blick des Zuschauers darauf doch nicht wieder derselbe. Alles zu erfassen ist nicht möglich für Augen und Ohren, stets wandert und springt das Auge über die Landschaft der Bewegung und kommt doch nicht hinterher. Man möchte jenem Duo da vorne folgen und dieser Frau dahinten, den Texten der Tänzer hinterherhören und genauer erforschen, wie Sprache und Laute die Bewegungen steuern; der Kamerafrau bei der Arbeit zusehen und der Vermischung ihrer Bilder mit den realen Körpern.

In „Decreation“ ist man froh um jede Wiederholung, jeden zum zweiten Mal gehörten Satz, jede wiedererkennbare Form. Denn da hakt das Verständnis ein, da beginnt das amorphe Gewimmel Gestalt anzunehmen. Obwohl man bald auch begreift: Mit jeder Wiederholung der Sätze im Streit eines Paares bohrt sich der Stachel der Verletzung tiefer in ihr Fleisch, schraubt sich das teuflische Muster aus Vorwürfen und Projektionen fester und fester.

Von Anfang an war diese Choreografie, die 2003 in Frankfurt uraufgeführt wurde, auch ein mit hoher, sirrender Spannung aufgeladenes Schauspiel. Und nichts davon hat sich verloren, wie jetzt beim Gastspiel der Forsythe-Company im Haus der Berliner Festspiele zu sehen war. Vielleicht ist der Text, der auf einem Libretto der kanadischen Lyrikerin Anne Carson beruht, etwas mehr in den Vordergrund gerückt; vielleicht hat der Konflikt eines Paares, die sich nur noch rückwärtsblickend über die verlorene Liebe streiten kann, etwas an Deutlichkeit der Konturen gewonnen. Aber nach wie vor sind die Räume, Stimmungen und Atmosphären, die aus Klang und Bewegung entstehen, dicht an Szenen der Verdammnis, am Höllenfeuer, dessen Zischeln, Flackern und Brodeln die 16 Tänzer und Tänzerinnen mit ihren Händen nachahmen.

„Decreation“ ist eine Arbeit über die Verzerrung und Entstellung: Das beginnt bei der äußeren Erscheinung, dem Zerren an den T-Shirts, den verdrehten Körperachsen, den schief hängenden Schultern und Hüften, den rausgedrückten Handballen, so dass die Finger gar nichts mehr ausrichten können. Das setzt sich fort in der Sprache, Englisch und ein wenig Deutsch, deren Laute gedehnt und geschreddert werden, ins Quieken und Jaulen verzogen, in klagende Verlangsamung und heliumhelle Beschleunigung. Das geht in die Tiefe, da, wo die Figuren sich seelisch selbst entstellen im Reden über ihre Liebe, im Gemeinwerden, im Zerren an der Seele. Selbstgerechtigkeit macht schief; man sieht nur noch sich und nicht mehr den anderen. Weil sie das Außen verloren haben, taumeln diese Figuren so out of focus umeinander. Fast wie Zombies.

Fragmentieren, um es neu zusammenzusetzen; analysieren, um die Wertigkeiten der Bestandteile zu ermitteln: so geht William Forsythe mit Bewegungen und Situationen um. Den anderen anzusehen ist beispielsweise so eine Aktion, die Forsythe in eine Handlung zwischen zwei Männern und einer Frau aufsplittert. Sie nimmt deren Köpfe und dreht sie dorthin, von wo sie dann kommen wird. Sie nimmt auch deren Hände und legt sie dahin, wo sie sie fühlen möchte. Es ist eine merkwürdige Dreiecksgeschichte, ein wörtliches In-die-Hände-Nehmen des Begehrens der anderen.

Figuren splitten sich auf: Wo zwei miteinander reden, sitzt einer davon steif auf dem Stuhl und der Zweite ist ein Zwitterwesen aus zwei Tänzern, die sich ebenso heftig umarmen wie in den Arm fallen; eine große Amalgamierung von Zärtlichkeit und Angriff, ein nie zur Ruhe kommendes Wendebild. Von solchen skurrilen, erotisch aufgeladenen Szenen, die stets von einer Verschiebung, einem Ungleichgewicht erzählen, wimmelt „Decreation“.

Forsythe nach Berlin zu bringen, ist den Berliner Festspielen nun schon ein paar Mal gelungen. Von „Decreation“ führen Entwicklungslinien zu den Stücken und Installationen, die danach kamen, wie „You made a monster“, „Three atmospheric studies“ und „Human wrights“, die den Kontext der Übersetzung von Sprache und Schrift in Aktionen noch weiter treiben. Je mehr unterschiedliche Stücke man von Forsythe gesehen hat, desto mehr Elemente und Motive vermag man in jeder einzelnen Arbeit zu entdecken. Das ist eigentlich eine banale Erkenntnis; aber sie hat viel mit Gefühl zu tun, für das Hingehen wieder belohnt worden zu sein und neue Erfahrungen hinzugewonnen zu haben.

„Decreation“, heute wieder um 20 Uhr im Haus der Berliner Festspiele