Fun Lebn un Lajt

Die Geschichte eines Hauses im Grindelviertel inspirierte die Sängerin Inge Mandos-Friedland zu einer Suche nach Spuren jüdischen Lebens in Hamburg

von Jana-Axinja Paschen

Wenn sie durch die Straßen des Grindelviertels geht, dann erklingen die Lieder in ihrem Kopf. Die Geschichte des Leierkastenmanns, der früher vielleicht an der Ecke zwischen der Bornplatz-Synagoge und dem Pferdestall stand. Oder die Abzählreime der spielenden Kinder rufen die Bilder eines Lebens zurück, das von den Nazis vernichtet wurde.

Die Hamburger Lehrerin und Sängerin Inge Mandos-Friedland hat in den Straßen rund um den Grindelhof nach Spuren jüdischen Alltags gesucht. Ein Schlüssel zu dieser verlorenen Kultur sind für sie jiddische Lieder, die von den ganz alltäglichen Dingen, den großen und kleinen Sorgen und Freuden des Lebens erzählen. In Gesprächen mit Nachbarn in Hamburg oder bei Streifzügen in Wien, Prag und Krakau hat sie über Jahre Volks- und Kinderlieder, Liebeslieder, Hochzeitslieder und die Lieder, die die Frauen bei der Hausarbeit sangen, zusammengetragen.

Den Anstoß zu der Recherche nach jüdischer Alltagskultur und Musik am Grindel gab die Geschichte des Hauses, in dem Mandos-Friedland seit 25 Jahren lebt. Erbaut wurde es 1903 als Wohnstift für kinderreiche jüdische Familien von der Familie Mathilde und Simon Hesse. Im Jahr 1908 lebten dort acht Familien, die keine oder nur sehr wenig Miete zahlen mussten.

Im Frühling 1942 wurde es dann von den Nazis zum „Judenhaus“ erklärt. Hier kasernierte man Juden und Paare, die in sogenannten „nichtprivilegierten Mischehen“ lebten, bevor man sie vom Sammelplatz auf der Moorweide nach Osten in die Arbeits- und Vernichtungslager deportierte. Allein vor dem Simon-Hesse-Stift, das heute wieder im Besitz der Hamburger Jüdischen Gemeinde ist, findet man 15 „Stolpersteine“ des Künstlers Gunter Demnig, auf denen Namen und Geburtsdaten an die früheren Bewohner erinnern. Sie alle wurden in Auschwitz oder anderen KZ ermordet.

„Auf diesem Haus lasten die Schatten der Vergangenheit“, sagt Mandos-Friedland, „aber es gab hier auch einmal Leben, Feste und Musik.“ Und die atmet das Haus bis heute, Spuren von damals sind überall zu finden. Mandos-Friedland erklärt eine Besonderheit des Hauses, die mit dem jüdischen Erntedankfest Sukkot, dem Laubhüttenfest, zusammenhängt: Weil die Laubhütten, mit denen man alljährlich der Entbehrungen des jüdischen Volkes gedenkt, unter freiem Himmel stehen müssen, baute man die Balkone versetzt und nicht wie üblich übereinander. So konnte man das Fest auch in der Enge der Stadt feiern.

An manchen Wohnungseingängen fand Mandos-Friedland außerdem die sogenannte Mezuzah oder Mesuse. Das ist ein kleines Röhrchen, in dem ein Stück der Thora-Rolle aufbewahrt wird und das als Segensbringer gilt.

Wem einmal die Augen geöffnet sind, der findet immer neue Schätze der Vergangenheit. Inge Mandos-Friedland erzählt von der polnischen Nachbarin, von der sie die Aussprache des Jiddischen lernte, von der koscheren Garküche der Frau Lazarus in der Heinrich-Barth-Straße und von einem alten Klempner, der die Rohre bei den Ärmeren auch einmal umsonst reparierte.

Mit ihren beiden Kindern hat Mandos-Friedland die ganz normalen Hochs und Tiefs des Familienlebens in ihrem Haus erlebt, so wie sie auch aus den jiddischen Liedern sprechen mit ihrer Mischung aus Melancholie und Lebensbejahung, ihrem Witz und ihren ebenso schlichten wie schönen Bildern: „Du ohne mich, das ist wie eine Klinke ohne Tür!“, heißt es in einem Liebeslied.

Allerdings ist ihr klar, dass sie sich mit den Liedern auf einen sehr kleinen und speziellen Teil der jüdischen Kultur konzentriert – das Jiddische wurde nur von etwa drei Prozent der jüdischen Bevölkerung gesprochen.

Das Revival, das die jiddische und die Klezmermusik erlebt, wird in der jüdischen Gemeinschaft zum Teil kritisch diskutiert. Mandos-Friedland sind gelegentliche Angriffe – Tenor: „Die Kinder der Täter eignen sich die Lieder der Opfer an“ – nicht unbekannt, weil sie als Nicht-Jüdin jiddische Lieder singt. Sie bewegt sich auf einem Terrain, das eine große Sensibilität erfordert, auch bei der Auswahl der Lieder.

Doch Mandos-Friedland möchte nicht idyllisieren, sondern einen Beitrag leisten gegen das Verschwinden der jiddischen Sprache und Musik. Eine Begegnung auf einem ihrer Konzerte hat sie nachdenklich gemacht: Als sie die alten jiddischen Kinderlieder und Volkslieder anstimmte, rührte das drei ältere Damen zu Tränen. Wie lange mag es her sein, dass sie diese Lieder hörten? Wer singt sie noch, wenn die alten Leute nicht mehr sind?

Die Musik der Handwerker und Händler am Grindel macht auch heute noch die Lücke sinnlich erfahrbar, die die Verbrechen der Nationalsozialisten in die Nachbarschaft und damit in die Identität eines ganzen Viertels rissen, in dem einst Juden und Nichtjuden zusammenlebten. Gemeinsam mit dem isländischen Organisten Hilmar Agnarsson und der Klezmer-Gruppe Kol Isha hat Inge Mandos-Friedland das Programm Fun Lebn un Lajt zusammengestellt, mit dem sie bereits fünfmal in Island aufgetreten sind. „Die Isländer gehen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit natürlich viel unbefangener um. Sie begeistern sich für die Musik und die Worte und lassen sich davon mitnehmen“, sagt sie. Am Freitag treten sie in der Zinnschmelze in Barmbek auf, am Samstag im Logensaal der Kammerspiele in der Hartungstraße, früher ein Ort, an dem jüdische Feste und Hochzeiten gefeiert wurden.

11.6., 21 Uhr, Zinnschmelze; 12.6., 20 Uhr, Logensaal der Kammerspiele; Hamburg