Grenzüberschreitung in der Raucherecke

Arbeiten, wohnen und auf den Boden aschen: Das Leben in den Großstädten Richmond, Buenos Aires, Schanghai und Lagos wird zur Kopiervorlage in dem Theaterprojekt „Mutation“. Hier wird eine Welt auf ihre Grundbausteine reduziert und nach und nach neu zusammengesetzt

Innerhalb eines Jahres hat der Regisseur Dirk Cieslak in Richmond, Buenos Aires, Schanghai und Lagos inszeniert. Jetzt laufen alle Stücke und ein Film des Projektes Mutation in den Sophiensaelen. Man könnte die Theaterreihe zwar unter der Rubrik Globalisierungskritik einordnen und damit wäre sehr schnell ein Urteil gefällt: modisch, trendy, vielleicht auch ironisch. Aber um Ironie geht es Cieslak nicht, wenn er die aktuelle ästhetische Wahrnehmung von Globalisierung auf den Kopf stellt und als Arbeitsweise für das Theater auf ihre Stimmigkeit überprüft. Das Motiv der Globalisierung, das heißt den Prozess der Diffusion von zunächst nur regional vorfindlichen Sachverhalten, hat sich Cieslak bejahend zum Produktionsmittel gemacht.

Im Gepäck des Regisseurs, der in Berlin die Theatergruppe Lubricat leitet, befanden sich seine prozessbetonte Arbeitsweise, je zwei deutsche Schauspieler für die Spielorte in den USA, Argentinien, Afrika und China, und der feste Vorsatz, die eigene Kultur weder zu erklären noch die fremde Kultur erklärt zu bekommen. In gewisser Hinsicht dürfte er damit den Theaterkünstler der Zukunft repräsentieren: supranational, ohne indes – und das ist das wirklich Befreiende – seine kulturelle Herkunft zum Akt larmoyanter Identitätssuche zu machen. Vielleicht ist die Überraschung deshalb gar nicht so groß: Wo die explizite Herkunft keine Rolle mehr spielt, tasten sich die Spieler auf anderen Feldern ab.

Die Liebe ist ständiges Thema oder kleine Alltagsrituale. Das Verkrümeln in die Raucherecke verbindet grenzüberschreitend. Lässig ascht Gao Ming Bo auf den Fußboden, wippt die Schanghaier Barbesitzerin hibbelig von einem Fuß auf den anderen. Die schief eingeknickte Hüfte – eine Form, die international Halt gibt und in dem Schanghai-Abend die drei Chinesen und zwei deutschen Performer verbindet.

Die Suche nach Schnittstellen und einer gemeinsamen Haltung eröffnet Momente, in denen sich auf der Bühne so etwas wie eine Weltgesellschaft bildet, die einen Tatbestand der Globalisierung betont: die Bedeutung, die die Existenz „einer Welt“ für das soziale Leben hat. Die Nationalstaaten, in denen Cieslak gearbeitet hat, liefern noch lange keinen Beweis für ein Pluriversum der Unterschiedlichkeiten, sie sind vielmehr Kopiervorlage für die Existenzform Arbeiten, Wohnen, Ehen-Schließen. Dass kleinste Einheiten darin individuelle Sonderwege finden, zeigt die „Mutation“-Reihe umso deutlicher.

Die verbindenden Prozesse sind eigensinnig und im Fall des Buenos-Aires-Abends von ökonomischer wie triebgesteuerter Natur. Überbrücken die äußeren Gemeinsamkeiten wie der Hüftknick und andere Stilisierungen der Popkultur im Schanghai-Abend noch die inneren Differenzen, könnten die Spieler jetzt äußerlich gar nicht unterschiedlicher auftreten. Dennoch zeigen sie sich vom gleichen Wunsch angetrieben, der auch Stoff für drastische Komik liefert: dem Wechsel aus der Dritten in die Erste Welt. Die deutschsprachigen Schauspieler Niels Bormann und Rahel Salvoldelli sind fest entschlossen, auf dem Feld lateinamerikanischer Leidenschaften mitzuhalten, wobei sich Bormann nach und nach in eifersüchtigen Besitzansprüchen verbeißt. Die argentinische Schauspielerin Tatiana Saphir, als Diva im Tigerfellmantel, zeigt sich dagegen zutiefst entschlossen, demnächst in Miami materiellere Dingwelten zu erobern: „I need a better environment.“ Schon deshalb, weil ihr jemand den Spiegel aus ihrem Pixi-Toiletten-Badezimmer geklaut hat.

Stehlen, betrügen, sich durchschlagen – die Motive hat Cieslak mit seinen Darstellern in Fußhöhe auf den Straßen von Buenos Aires gesammelt und treibt sie schön schwebend durch den Abend. Seine Arbeitsweise, sich auf der Bühne den Text aus Fragmenten und Ideen zusammenzubauen, wobei jede sprachliche Mehrdeutigkeit über körpersprachliche Kommentare ergänzt wird, funktioniert in den „Mutation“-Abenden schon wegen des Sprachgewirrs aus Deutsch, Englisch, Spanisch oder Mandarin besonders gut.

Eine spärliche Dingwelt aus Gitarre, Kühlbox, Plastikstühlen oder Mikrofonen bildet das Bühnenbild. Objekte, die weltweit verbreitet sind, aber von den Darstellern auf der Bühne neu beseelt werden, wenn etwa der Peking-Oper-Darsteller Cao Yi Yun in Denkerpose die Kühlbox zum Allzwecksitzmöbel umfunktioniert. Hier ist eine Welt auf ihre Grundbausteine reduziert, die der Künstler ganz nach alter Tradition schöpfend neu zusammensetzt. Diesen Demiurgen der Zukunft traut man auch die Beherrschung ganz anderer entfesselter Kräfte der Globalisierung zu. SIMONE KAEMPF

Premiere des Abends mit allen Darstellern „Mutation 05“ am 18. 6., Stationen aus Richmond, Buenos Aires, Lagos und Schanghai 10.–13. und 15. + 16. 6., Infos: www.sophiensaele.de