Der Meister lässt zweifeln

Begünstigt von einem schweren Sturz des Spaniers Beloki gewinnt Alexander Winokurow die 9. Etappe der Tour de France. Lance Armstrong verlässt die Alpen in gelb, aber nicht alles läuft nach Plan

aus Gap SEBASTIAN MOLL

Das Ende der gestrigen 9. Etappe der Tour de France von Bourg d’Oisans über 184,5 km nach Gap war dramatisch. Einträchtig hatten die Favoriten die letzten Alpengipfel überquert, Lance Armstrong, Träger des gelben Trikots, hatte auch danach alle Angriffe abgewehrt und den Rückstand zu einer Ausreißergruppe um Jörg Jaksche drastisch verringert. Da begab sich plötzlich etwa zehn Kilometer vor dem Ziel Alexander Winokurow auf die Flucht. Den Dritten der Gesamtwertung konnte weder Armstrong noch sein ärgster Widersacher Joseba Beloki ziehen lassen. Auf der Abfahrt nach Gap rückten sie dem Kasachen immer näher, da verbremste sich Beloki, stürzte schwer und blieb minutenlang liegen. Erst nach längerer Behandlung rollte der Spanier schwer angeschlagen ins Ziel, mit Verdacht auf Beckenbruch wurde er ins Krankenhaus eingeliefert.

Armstrong hatte gerade noch ausweichen können und war über eine Wiese zurück auf die Straße gefahren, Winokurow konnte er jedoch nicht mehr holen. Der Telekom-Profi gewann die Etappe mit einer halben Minute Vorsprung und hat nun als Gesamtzweiter nur noch 21 Sekunden Rückstand auf Armstrong. Ein weiteres Indiz dafür, dass bei dieser Tour nicht alles so läuft, wie es der Texaner gern hätte.

Das erste Indiz hatte es beim Aufstieg nach L’Alpe d’Huez gegeben. Als Lance Armstrong dort 2001 über die Ziellinie fuhr, richtete er sich im Sattel auf, biss auf die Zähne und ballte die Faust in der Manier, in der der Champion stets zu jubeln pflegt. In solchen Momenten bricht eine tiefe Genugtuung aus Armstrong heraus, eine Genugtuung darüber, seine Gegner nicht bloß besiegt, sondern regelrecht unterworfen, wenn nicht gedemütigt zu haben. Als Armstrong am Sonntag vor der Tribüne am „Palais Omnisport“ zwischen den Hotelkästen des Ferienorts unter dem Zielbanner durchfuhr, senkte er hingegen sein Haupt.

So hatte der Gebieter über die Tour seit vier Jahren sich die ersten Bergetappen der Tour 2003 nicht vorgestellt. Zwar holte er sich programmgemäß in den Alpen das gelbe Trikot, doch auf den 21 Kehren von Bourg d’Oisans nach L’Alpe d’Huez hinauf liefen den US Postals die Dinge ein wenig aus dem Ruder. Anstatt, wie gewohnt, vorneweg den Berg hinauf zu stürmen und dabei einen Gegner nach dem anderen abzuhängen, gerieten Armstrong und seine Männer unter Druck. Die Konkurrenten zögerten nicht, gleich bei der ersten Gelegenheit deutlich zu machen, dass sie während dieser Tour den Aufstand gegen den Patron proben wollen. Als hätten sie sich abgesprochen, ließen sie Armstrong nicht zur Ruhe kommen. Hatte er eine Attacke pariert, setzte ein anderer die nächste, so lange, bis eine erfolgreich war. Iban Mayo, der 25 Jahre alte Baske, der Armstrong schon bei der Dauphine-Libéré-Rundfahrt im Juni unter Druck setzte, stiefelte letztlich davon, und auch Alexander Winokurow vom Team Telekom entkam. „C’est bien“, sagte der Kasache im Ziel trocken mit seinem harten osteuropäischen Akzent.

„Bien“ fand Armstrong das gar nicht. Er hatte viel zu mosern in seiner ersten Pressekonferenz im gelben Trikot, über das er sich nicht so recht freuen konnte. „Alle konzentrieren sich nur auf mich und lassen einen gefährlichen Mann wie Mayo einfach fahren“, beklagte er sich. „Ehrlich gesagt, verstehe ich eine solche Taktik nicht.“ Schon vorher hatte er an die anderen Mannschaften und Fahrer appelliert, die Tour de France nicht zum Rennen gegen Armstrong zu machen. Aber so einfach stiehlt man sich als vierfacher Champion nicht aus der Verantwortung. „Es gibt keine Absprachen gegen Armstrong“, erzählte Winokurow. „Aber man hat gemerkt, dass er nicht so überlegen ist wie in den vergangenen Jahren. Und dann traut man sich auch, zu attackieren.“ Es war, als hätte sich die Tour de France aus einer vier Jahre langen Umklammerung gelöst.

Lance Armstrong gibt unumwunden zu, dass er nicht in der überlegenen Verfassung der vergangenen Jahre ist: „Mit meiner Mannschaft bin ich zufrieden“, sagte er, „mit mir selbst – ich weiß nicht so recht. Ich habe mich nicht wirklich gut gefühlt.“ Ob die anderen sich etwas trauen, weil sie diese Schwäche bei Armstrong wittern, oder ob er sich schlecht fühlt, weil er auf so konsequenten Widerstand stößt, wird sich spätestens am Wochenende in den Pyrenäen erweisen.