Letztes Hurra der verlorenen Generation

Nach der Ankunft in Portugal präsentieren sich die Niederlande, der erste Vorrundengegner des DFB, als Teamkurz vor der Explosion. Immerhin betreibt man die derzeit spannendste Feldstudie des internationalen Fußballs

Den ersten Applaus bei der Europameisterschaft in Portugal verdiente sich die niederländische Nationalelf dann doch eher leicht. Sie brauchte nur für ein Erinnerungsfoto mit dem Bürgermeister von Albufeira Aufstellung zu nehmen. Und schon jubelten die 1.500 Zuschauer, in der Hauptsache Touristen und Kindergartengruppen, beim ersten Training im EM-Quartier der Niederländer. Da musste sogar Nationaltrainer Dick Advocaat tun, was ihm am schwersten fällt: lachen.

Albufeira, der Ferienort an der Algarve, gibt jedes Jahr hunderttausenden Urlaubern und nun auch der niederländischen Fußballauswahl die Illusion einer Idylle. Unter der milden Abendsonne schienen die Probleme des Alltags weit weg. Selbst von kritischen Erkundigungen der Journalisten wollten sich die Fußballer nicht stören lassen: Mittelfeldspieler Edgar Davids nahm dem perplexen Reporter einfach den Kugelschreiber aus der Hand und schrieb ihm ein Autogramm auf dem Block.

Doch Holland ist ein paar Tage vor der EM eine Mannschaft kurz vor der Detonation. Man weiß bloß noch nicht, ob sie explodieren wird – sich die Frustration in rauschenden Auftritten löst – oder ob sie implodiert und sich in selbstzerstörerischer Wut selbst besiegt. Zwei 0:1-Niederlagen in den abschließenden Testspielen gegen Belgien und Irland genügten, einen Turnierfavoriten fundamental zu erschüttern.

Zwei Tage vor EM-Beginn ist noch nicht einmal ansatzweise klar, in welcher Aufstellung und mit welcher Taktik die Niederlande am kommenden Dienstag in Porto ihr erstes Vorrundenspiel gegen Deutschland bestreiten werden. Ein Symptom für wirkliche Probleme, die Phillip Cocu, einer der erfahrenen holländischen Mittelfeldstrategen, leicht beschönigend formuliert: „Ein paar bei uns im Team sind ein kleines bisschen außer Form.“ Bei Stürmer Patrick Kluivert, der sich angesprochen fühlen durfte, hörte es sich so an: „Ich war zuletzt richtig schlecht.“

Der niederländische Angriff bietet derzeit die spannendste Feldstudie des internationalen Fußballs. Denn er sollte der beste Europas sein. Und ist die größte Sorge. Trainer Advocaat schafft es nicht, aus vier Weltklassetorjägern eine schlagfertige Kombination zu formen. Bayern Münchens Roy Makaay, der zwei Jahre auf konstant höchstem Niveau hinter sich hat, ist bei ihm partout nur Ersatz, was Makaay ziemlich die Laune verhagelt hat, aber da ist er im Team Holland zurzeit ja nicht alleine. Ruud Van Nistelrooy zusammen mit Kluivert war Advocaats Wahl, obwohl Kluivert persönlich schon vor acht Monaten nach dem 0:1 im Qualifikationsspiel gegen Schottland mitteilte: „Mit van Nistelrooy und mir hat es noch nie funktioniert, warum sollte es jetzt funktionieren?“ Dass dies vor allem an ihm liegt, erwähnte Kluivert nicht. Er spielte eine jammervolle Saison und hat offenbar auch wenig Interesse, durch ein sportlergerechtes Leben zur Besserung beizutragen. Bei seinem Verein FC Barcelona haben sie längst die Geduld mit ihm verloren, er war nur noch Ersatz und soll nun gehen. Advocaat war der Letzte, der glaubte, Kluivert, der alles hat, fantastische Technik und sagenhafte Geistesblitze, müsse doch wieder gut werden. Dass ihn der Trainer nun, so kurz vor dem Ernstfall offenbar aufgeben will, zeigt vor allem eines: Panik.

Er werde van Nistelrooy statt Kluivert zwei Flügelstürmer zur Seite stellen, kündigte Advocaat letzten Samstag an. „Darüber hat er mit uns noch gar nicht geredet“, widersprach nun Kluivert. 1995, als er mit 19 Ajax Amsterdam zum Europacupsieg schoss, war er das Gesicht einer neuen Generation niederländischer Fußballer, der alles offen zu stehen schien. Neun Jahre später ist sie dreimal in den K.o.-Runden bei WM oder EM im Elfmeterschießen gescheitert und haben sich einmal – für die WM 2002 – gar nicht qualifiziert. Neun dieser Generation, von Marc Overmars bis Edwin van der Sar, sind in Portugal weiterhin dabei, und Patrick Kluivert ist noch immer ihr Gesicht. Allein, heute ist es die fast schon verlorene Generation. RONALD RENG