Von der Schweinshaut zum Polyurethan

Am Wochenende, bei der Fußball-Europameisterschaft in Portugal, wird er wieder getreten und geköpft – eigentlich keine angemessene Behandlung für ein ehrwürdiges Kulturgut, wie es der Ball ist: fast 4.600 Jahre alt und unsterblich. Ein kleiner historisch-kultureller Streifzug von JUTTA HEESS

Er wird geschossen, getreten, geschlagen, geköpft und angeschnitten. Der Ball ist das am meisten strapazierte Sportgerät. Und vielleicht auch das verkannteste – denn obwohl sich in vielen Sportarten alles um ihn dreht, weiß man doch wenig über ihn. Allenfalls, dass er rund ist.

Dabei hat der Ball bereits eine bewegte Geschichte hinter sich. Die Chinesen haben vor etwa 4.600 Jahren die Sache ins Rollen gebracht. Sie erfanden den Ball – nicht nur zu Spiel und Spaß, sondern auch, um mit ihm rituelle Tänze durchzuführen.

Günter Pfau weiß, wie die ersten Bälle aussahen. Er ist kraft seines Amtes Experte für die Vergangenheit und Gegenwart des Balles: Pfau ist Ball-Verantwortlicher beim Sportartikelhersteller Adidas in Herzogenaurach. Die ersten Bälle, die Urbälle, weiß Pfau, sahen aus wie folgt: „Das waren zusammengenähte Felle, Kuh- oder Schweinshäute sowie Tierblasen, in die weiche Materialien reingestopft wurden, um den Urball rollbar zu machen.“ Bald taten es andere Kulturen den Chinesen gleich: Die Azteken stellten Gummisaft-Kugeln her, die Aborigines stopften Heu in Känguru-Hoden, die Inuit nahmen Robbenleder mit Fellfüllung, und die Bewohner der Fidschi-Inseln schnappten sich einfach eine Pampelmuse zum Werfen und Kicken – so beschreiben es jedenfalls die Überlieferungen. All das sind gutartige Varianten im Vergleich zu einer weiteren Praxis, von der Günter Pfau berichtet: „Die Etrusker hatten eine Art Polospiel, in dem sie die Köpfe der Gegner als Ball hin und her getrieben haben.“

Sport kann brutal sein, und Not macht erfinderisch. So wird auch heute noch jeden Tag der Ball neu geformt, im Pausenhof, an Bushaltestellen, in Parks. Mal ist er eine Coladose, mal eine Milchtüte, dann wieder ein einfacher Stein. Hauptsache, er lässt sich fortbewegen. An Einfallsreichtum mangelt es im Lebenslauf des Balles demnach nicht – das spiegelt sich auch in der Vielfalt seiner professionell hergestellten Erscheinungsformen wider. Es gibt große Bälle, kleine Bälle, runde, ovale und sogar eckige Bälle, nämlich den Tipp-Kick-Ball: „Hier wird eine rollende Tätigkeit über die Ecken erzielt“, sagt Günter Pfau.

Die unumstrittene Nummer eins im Ballsport ist der Fußball, der gerne „Lederkugel“ oder „rundes Leder“ genannt wird. Auch heute noch, obwohl er schon längst nicht mehr aus Leder ist. „Seit 1986 wird ein Nicht-Leder-Material, Polyurethan, verwendet, um die Wasseraufnahme des Balles auf nassen Fußballfeldern zu reduzieren“, erklärt Günter Pfau. Korrekterweise müssten Kommentatoren also davon sprechen, dass Oliver Kahn „das Polyurethan über die Latte gelenkt hat“, nicht das „Leder“. Es wäre nur ein weiterer der vielen Spitznamen, die der Fußball im Lauf der Zeit erhalten hat. Die Brasilianer etwa haben den Ball mit liebevollen Koseformen bedacht, über 30 Wörter haben sie für ihn geschaffen, heißt es. Zum Beispiel „Baby“ oder „kleine Dicke“. In der deutschen Sprache hört sich das oftmals etwas schroffer an: Pille und Ding, Gurke, Ei, Kirsche und Pflaume. Harmlos ist das aber immer noch verglichen mit manchem Wortspiel der Fußballreporter. In ihren Kommentaren schlägt schon mal „eine Kopfball-Bombe“ ein, und ein Torschuss wird mit „einer Granate“ oder „einem Scharfschuss“ verglichen.

Eine Erklärung für diese kriegerischen Metaphern hat Elk Franke, Sportphilosoph an der Berliner Humboldt-Universität: „Die Sportsprache ist eine Sprache über ein Handlungsgeschehen, bei dem Dramatik übersetzt werden muss. Und hierzu benutzt der Kommentator Bilder, die häufig dem Kriegsgeschehen nachempfunden sind. Gleichzeitig hat das für den Zuschauer und für den Kommentator nichts mit Krieg zu tun.“

Während auf dem Spielfeld der arglose Ball mit Kanonenkugeln und Granaten gleichgesetzt wird, hat er sich in der Sprache abseits des Fußballfeldes einen Spitzenplatz erkämpft. Selbst unsportliche Menschen „bleiben am Ball“, sollen „den Ball flach halten“ oder sind einfach „ballaballa“. Besser ist es eh, wenn man eine „Sache rund macht“ oder eine „ruhige Kugel schiebt“. „Gerade Ballspiele übersetzen Lebensdramen in einfache dichotome Muster“, erklärt Elk Franke. „Diese Beispiele sind aus Spielsituationen abgeleitet und haben eine starke Aussagekraft. Die Metaphorik wirkt also ohne lange Zusatzerklärung.“

Vielleicht setzen sich deshalb auch Dichter und Denker gerne mit dem Ball auseinander. Rainer Maria Rilke etwa hat ihm ein Gedicht gewidmet und Friedrich Nietzsche philosophierte über den „vollkommenen Ball des Seienden“.

Elk Franke ist der Meinung, dass seine Unkontrollierbarkeit und Spontaneität – also die Tatsache, dass er irgendwohin rollt – den Ball für Künstler attraktiv macht. „Schriftsteller und Philosophen wollen immer die Welt erklären. Und bevor sie eine abstrakte Theorie entwickeln, haben sie die Möglichkeit, an einem Phänomen wie dem Ball zum Beispiel die Vielfältigkeit menschlicher Handlungsmöglichkeiten darzustellen.“

Der Ball kann also nicht nur mit Luft, sondern auch mit Bedeutung aufgepumpt werden. Und Sepp Herberger hat mit seiner Bemerkung „Der Ball ist rund“ nicht nur einen profanen Gemeinplatz, sondern im Grunde einen Satz von philosophischer Größe ausgesprochen. Denn die runde Form hat es in sich. Kugel und Kreis seien in Philosophie und Religion schon immer zentrale Figuren gewesen, sagt Elk Franke. „Vielen ist sicher das Bild von Yin und Yang bekannt, die Rahmung ist ein Kreis. Das Runde hat also keinen Endpunkt. Und daraus leitet sich eine tief sitzende Hoffnung von Harmonie und Vollständigkeit ab. Das fokussiert sich dann in der Kugel.“ Oder im Ball.

Für Plato war selbst das Universum eine runde Sphäre, wie auch das griechische Wort „sphaira“ ursprünglich einmal „Kugel“ bedeutete.

Unser Leben ist somit nicht nur im Sport von runden Dingen geprägt. Selbst im Alltag sind sie allgegenwärtig: Mozartkugeln und Königsberger Klopse, Moleküle und Himmelskörper. Und natürlich die Erde. Die Planeten sind mehr oder weniger rund. Christian Kassung, Physiker am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität in Berlin, kennt jedoch die feinen Unterschiede: „Idealrund wären sie, wenn die Dichte homogen wäre und wenn sie sich nicht bewegen würden. Bei der Erde kommt zum Beispiel die Erdrotation dazu, deshalb ist sie ein Rotationsellipsoid.“ Das Runde hat also auch seine Ecken und Kanten. Vielleicht lag Sepp Herberger am Ende ganz falsch? Ist der Ball – wie die Erde – gar nicht wirklich rund? Sondern eher ein Eckball? „Man könnte sagen, das Runde ist bloß eine Erkenntnisform“, sagt Christian Kassung. „Wir versuchen, geometrische Formen zu erkennen, und schreiben sie den Dingen zu. Es ist immer eine gute Erklärung, wenn man sagt: Ich weiß zwar nicht so genau, wie es ist, aber es erinnert mich an einen Kreis.“

Auch Günter Pfau von Adidas gibt zu, dass ein Ball immer nur annähernd rund sein kann. „Wir gehen von einer Grundrundheit aus, die durch den Weltfußballverband vorgegeben ist“, erläutert er. „Was die Rundheit betrifft, war das Rad auf jeden Fall die größere Erfindung.“ Immerhin ist der Ball im Laufe der Jahrhunderte immer runder geworden – was seinem heutigen Sinn und Zweck entgegenkommt. „Wenn man mit einem Würfel Fußball spielen würde, wüsste man nicht, in welche Richtung er abprallt“, erklärt Christian Kassung. „Man kann einen runden Gegenstand viel besser kontrollieren, wenn man ihn in Bewegung versetzt.“

Genau das geschieht unablässig: Bälle werden in Bewegung versetzt, getreten, geschlagen, geköpft. Was aber ist ein Ball, wenn niemand mit ihm spielt? Wenn er nicht ins Tor, in den Korb, übers Netz bugsiert wird? Offenbar ist nur ein Ball in Bewegung ein richtiger Ball.

Streng philosophisch betrachtet jedenfalls. „Ludwig Wittgenstein würde sagen, die Bedeutung des Balles ergibt sich aus seinem Gebrauch“, sagt Elk Franke. „Somit wäre er lediglich in seinen Kontexten wichtig. Und der still in der Ecke liegende würde übersehen.“

So weit wird es aber nicht kommen. Denn in Wirklichkeit ist der Ball ein echter Star. Da ist es egal, dass er nicht so ganz kugelrund ist. Ohne Ball wollen wir nicht leben. „Die Welt ist reich geworden durch die Möglichkeiten, die der Ball bietet“, meint Elk Franke. Man könnte sogar noch weiter gehen und mit Wittgenstein sagen: „Die Welt ist alles, was der Ball ist.“ Nicht nur in den nächsten drei Wochen.