JOHN KERRY VERSUS GEORGE W. BUSH IM SCHATTEN DES G-8-GIPFELS
: Nüchterne Realpolitik

Der G-8-Gipfel, die Feiern zum D-Day und die jüngsten außenpolitischen Reden von John Kerry haben deutlich gemacht: Bei den US-Präsidentschaftswahlen werden amerikanische Politikmuster auf den Kopf gestellt. Der Republikaner Bush geriert sich als Visionär in der demokratischen Tradition eines Woodrow Wilson oder Bill Clinton. Und der Demokrat Kerry wirkt wie ein Realist in der republikanischen Tradition eines Richard Nixon oder Bush senior.

Ironischerweise distanzierte sich Bush jr. anfangs von Clintons moralisch getriebener Weltverbesserungspolitik. Erst nach dem 11. September wandelte sich Bush zum missionarischen Heilsbringer mit dem Ziel, dem Nahen Osten Freiheit und Demokratie zu schenken. Bushs utopischer Eifer ist jedoch überwiegend rhetorischer Natur. Außerhalb des Irak-Projektes übt er sich in gewohnter Doppelzüngigkeit. Die Autokraten in Ägypten, Pakistan oder Saudi-Arabien müssen nicht fürchten, dass er dort ernsthaft demokratische Reformen einfordert.

John Kerry hingegen gibt unverblümt zu, dass Demokratieförderung in Nahost nicht seine Priorität ist. Er versteht sich eher als globaler Krisenmanager und Problemlöser, der alte Allianzen stärken und Amerikas Sicherheit erhöhen will. Ist dies ein Vor- oder Nachteil? Immerhin hat Bush durch den Irakkrieg Amerikas Demokratisierungsbemühungen nicht nur in der arabischen Welt diskreditiert. Angesichts seiner Inkompetenz und Falschinformationen könnte es sein, dass die Wähler Kerrys nüchterne Realpolitik attraktiver finden.

Allerdings sind viele Präsidenten zunächst als zurückhaltende Außenpolitiker ins Weiße Haus gelangt, bevor sie durch überraschende Ereignisse zum Verfechter großer Ideen wurden. Der 11. September war ein solches Ereignis. Wer den Kampf gegen den Terror ernst nimmt, kommt um politische Reformen im Nahen Osten nicht herum. Kerry liegt richtig, dass dabei oft der Ton die Musik macht. Er liegt falsch, wenn er auf diese demokratische Vision verzichtet, nur weil Bush sie in Misskredit gebracht hat. MICHAEL STRECK