DAS BUNDESVERFASSUNGSGERICHT ENTSCHEIDET IM SINNE DES ZEITGEISTES
: Geregelter Einkauf

Die Beschäftigten des Einzelhandels genießen weiterhin Privilegien, die Millionen anderer Arbeitnehmer schon lange nicht mehr haben. Da das Bundesverfassungsgericht gestern die Aufhebung des Ladenschlussgesetzes untersagt hat, bleibt vielen Verkäuferinnen Nachtarbeit vorerst erspart – im Gegensatz zum verarbeitenden Gewerbe oder zur Gastronomie. Dort ist Nachtarbeit gang und gäbe.

Dies war nur ein Argument für die Lockerung des Ladenschlusses, das sich nicht durchgesetzt hat. Die Entscheidung des obersten deutschen Gerichts passt zu einer öffentlichen Stimmung, in der die Befreiung der Wirtschaft von gesetzlichen Bindungen nicht mehr oberste Priorität hat.

Die Richter entscheiden auf der Basis der Rechtswissenschaft, doch frei von Werturteilen sind auch sie nicht. Dass in diesem Fall die persönlichen Präferenzen besonders weit auseinander lagen, zeigt das Unentschieden – vier Richter waren gegen die Aufhebung, vier dafür –, womit infolge der fehlenden Mehrheit für die Klage von Kaufhof nun alles beim Alten bleibt. Diese Entscheidung kam zustande in einem gesellschaftlichen Umfeld, das vom verbreiteten Gefühl ökonomischer Unsicherheit geprägt ist. Im Gegensatz zum Jahr 2000 verlangt die öffentliche Meinung heute nicht mehr zusätzliche Flexibilität und Anpassung an wirtschaftliche Erfordernisse.

Während in der damaligen Boomzeit der Abschied vom ständisch geprägten, verkrusteten und behäbigen Deutschland als schick galt, kommt es in der gegenwärtigen Stagnationsphase vielen Menschen vor, als seien sie von den Reformen schon ausreichend durchgeschüttelt worden. Selbst die Bundesregierung akzeptiert mit ihrem Slogan vom „Ende der Zumutungen“, dass die schnellen Veränderungen in den Sozialsystemen nicht mehr auf Akzeptanz treffen.

In einer derartigen Situation kann der Schutz von Arbeitnehmerinteressen, wie ihn das Verfassungsgericht betont hat, wieder höher rangieren als die Durchsetzung von Firmeninteressen. Vor drei Jahren wäre die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts womöglich anders ausgefallen.

HANNES KOCH