An einem 10. Juni

Heute wird in Oradour der 624 Opfer des Massakers vor 60 Jahren gedacht. Bundeskanzler Schröder wird nicht da sein. Nicht an einem 10. Juni

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

60 Jahre. So lange hat es gedauert, bis sich ein deutscher Kanzler für Oradour-sur-Glane entschuldigt. Für das Massaker vom 10. Juni 1944, bei dem 200 SS-Männer das Dorf in Südwestfrankreich zerstörten und 624 Menschen ermordeten. Sie verbrannten die 209 Kinder und 240 Frauen in der Dorfkirche. Sie erschossen die Männer in Heuschobern.

Am Sonntag hat Gerhard Schröder es getan. Bei der Gedenkveranstaltung für die alliierte Landung in der Normandie sprach er von seiner „Scham“. Und von der „aller Deutschen“. Im 600 Kilometer südwestlich gelegenen Oradour-sur-Glane sagt Bürgermeister Raymond Frugier: „Das ist ein sehr großer Schritt. Endlich hat die deutsche Regierung anerkannt, was hier passiert ist.“ Neben den Ruinen des alten Dorfes, die so geblieben sind, wie die SS sie vor 60 Jahren hinterließ, ist das neue Oradour entstanden. 2.000 Menschen leben hier. Heute werden sie in einer Messe in der Dorfkirche ihrer Toten gedenken. Der Schulchor wird die Ode an die Freude singen. Auf Französisch, auf Englisch und auf Deutsch. Dann wird die Gemeinde Blumen und Kränze niederlegen. Im neuen und im alten Dorf. Auf dem alten Marktplatz, wo die SS die Dorfbewohner versammelt hat, wird Marcel Darthaud um eine Schweigeminute bitten. Vor 60 Jahren kroch er schwer verletzt unter einem Berg von Leichen hervor. Seine Mutter und die Frau, die er zehn Monate zuvor geheiratet hatte, waren tot.

An der Zeremonie nehmen heute der französische Premierminister und zwei Regierungsmitglieder teil. Der Erzbischof von Straßburg wird die Messe zelebrieren. Es ist das erste Mal, dass ein elsässischer Geistlicher eine Messe in Oradour leitet – an dem Massaker waren auch Elsässer beteiligt. Die Männer aus der von NS-Deutschland annektierten Region gehörten zur SS-Division „Das Reich“.

Ein Repräsentant der Bundesregierung wird nicht in Oradour sein. Seit 60 Jahren hat die Bundesrepublik nie ein Regierungsmitglied geschickt. Nicht einmal einen Botschafter. Warum? „Das müssen Sie Ihre Regierung fragen“, sagt Marcel Darthaud. Der 80-Jährige ist einer der beiden letzten Überlebenden des Massakers. Und engagierter Befürworter der deutsch-französischen Aussöhnung. „Wir müssen uns die Hand reichen“, sagt er, „der Krieg ist vorbei.“ Einige Monate wurde in Oradour eine Teilnahme des Bundeskanzlers am heutigen 60. Gedenktag erörtert. Anlass war, dass Schröder im Mai 2003, in einem sehr viel kleineren Rahmen, von Oradour gesprochen hat. Bürgermeister Frugier griff diese jahrelang erwartete Äußerung sofort auf. Doch die Idee, Schröder für heute einzuladen, scheiterte an der „Vereinigung der Märtyrerfamilien“. „Nicht an einem 10. Juni“, sagten sie. Wenige Tage nach Schröders Rede in der Normandie ist Bürgermeister Frugier sicher: „Eines Tages wird er kommen.“

Die Erinnerung an das Massaker ist für die Menschen in Oradour immer schmerzhaft gewesen. Auch wegen des politischen Umgangs mit ihr. In Frankreich besuchte General de Gaulle kurz nach der Befreiung Oradour. Er war es, der entschied, den Ort in seinem zerstörten Zustand zu erhalten. Als Mahnmal für die Welt. Oradour wurde zum Inbegriff der Gewalt gegen Zivilisten, sein Name zum festen Begriff. „Ein Oradour“ ist im Französischen ein Synonym für Massaker.

Die Überlebenden von Oradour wohnten in Baracken. Direkt neben den Trümmern ihres alten Lebens. Als 1953 auf einer kleinen Anhöhe neben dem alten Ort ein neuer erbaut wurde, lautete die Weisung der Behörden, der neue Ort müsse die Naturfarben der Steine behalten. Keine bunten Farben. Oradour ist bis heute grau. Ein neuer Ort, der in Symbiose mit der Auslöschung des alten lebt. 1999 wurde ein Gedächtniszentrum eröffnet.

Während Oradour offiziell zum Symbol wurde, tat die Justiz wenig, um die Verantwortlichen zu bestrafen. Erst neun Jahre nach dem Massaker fand der erste und in Frankreich einzige Prozess statt. Angeklagt waren nur Männer mit niedrigen Dienstgraden. Kein Vorgesetzter. Mehrere in Deutschland lebende Angeklagte blieben dem Prozess fern. Im Februar 1953 sprach das Gericht in Bordeaux 21 Urteile. Darunter zwei Todesurteile, die wegen Abwesenheit der Angeklagten nie vollstreckt wurden. Die 13 verurteilten Elsässer wurden eine Woche später amnestiert. Die Regierung erließ eigens für sie ein Amnestiegesetz. Sie reagierte damit auf die massiven Proteste im Elsass. Dort protestierten sämtliche Parteien außer der KP gegen die Verurteilung ihrer Landsleute mit der Begründung, die SS-Männer seien nicht freiwillig in die Division „Das Reich“ gegangen, sondern von den Deutschen gezwungen worden.

Damals schickte der Bürgermeister von Oradour seinen Orden an die Pariser Regierung zurück. Und die Angehörigen der Opfer entschieden, dass die Asche ihrer Toten in kein vom Staat errichtetes Denkmal käme. Zwei Jahrzehnte durfte kein Pariser Vertreter mehr zu den Gedenkzeremonien nach Oradour kommen. Der Ort blieb allein mit seinen Toten. Seit 1982 nehmen wieder Pariser Politiker an den Gedenkfeiern teil. François Mitterrand kam als Erster. 1999 eröffnete Jacques Chirac das Gedächtniszentrum. „Die Erinnerung an Oradour gehört jenen, die gelitten haben“, sagte er, „aber sie ist auch eine kollektive Erinnerung.“

„Das Reich“ hat viele Massaker verübt. Einen Tag vor Oradour ermordete die Division im 100 Kilometer entfernten Tulle 99 Männer. Doch Tulle wurde kein „Märtyrerort“. „Die Arithmetik ist absurd“, sagt Pierre Diederichs in Tulle, „doch sie hat existiert.“ Gleich nach Schröders Rede in der Normandie hat der Bürgermeister von Tulle, der Sozialdemokrat François Hollande, den Kanzler zu einer Gedenkzeremonie nach Tulle eingeladen. An einem 9. Juni.