Kleines rotes Wunder

In manchen Momenten ist sie allen gleich. Wenn sie mit den Fingern guckt. Ann-Christin, zehn Jahre, blind

Sie tut den anderen gut, sie fordert Toleranz heraus.“ – „Sie würde uns fehlen, sie macht immer Witze.“

von Hildegard Filz

Farbe mag sie nur, wenn sie rot ist. Das ist alles, was sie sieht. Mal einen Schatten, schwarze Wolken vor weißen Flecken, okay. Und immer wieder Rot, das ihre blauen Augen streift. Große Blicke, die sich Bahn brechen durch fingerdicke Brillengläser. Fragen stellen, bis die Kuppen ihrer farbbeschmierten Kinderhände nah genug sind, angekommen am Spezialglas. „Rooot“, haucht sie. Ein kurzes Kniepen, die Augen wissen die Antwort, auch wenn sie keine Netzhaut haben. Ann-Christin ist blind. Und ein kleines Wunder.

In solchen Momenten ist sie allen gleich. Denen, die ihre Hände mit scharfem Sehsinn übers Blatt schicken. 19 Augenpaare im Einklang. Und das von Susanne Pregla, der Sonderschulpädagogin, die nur für Ann-Christin Lau da ist. Sie lenkt die Zehnjährige durch den Unterricht, parallel zu Mitschülern und Lehrern. Deutsch, Mathe, Erdkunde in der vierten Klasse, Grundschule Buchholz, Kreis Dithmarschen.

Ann-Christin und Susanne, Susanne und Ann-Christin. Eine Autostunde weiter, in Schleswigs Staatlicher Schule für Sehgeschädigte, fällt der eine Name mit dem anderen. Pregla ist eine von 65 LehrerInnen, die sehschwache und blinde Kinder vor Ort betreuen. In ganz Schleswig-Holstein sind sie unterwegs. „Wir lassen die Lehrer zu den Kindern kommen“, sagt Schulleiter Josef Adrian, „das System ist mobil, nicht stationär.“ Es geht auch anders, für kurze Zeit: „Spürnasen“ und „Winnetou“ zuliebe reisen die Schüler nach Schleswig – diese Titel hat die Landesschule ihren Kursen gegeben, auch Beratungen und Exkursionen gehören zum Konzept der bundesweit einzigartigen Schule. Am Sonntag feiert sie ihren 20. Geburtstag.

Ich guck‘ doch mit den Fingern“, lacht Ann-Christin und schüttelt das schulterlange Blondhaar, ihr Zeichen von Freude. „Warum soll ich bös‘ sein?“ Susanne Pregla hat sie gebeten, auf den Monitor „zu gucken“ – für Ann-Christin sollen die gleichen Wörter gelten. Vivienne, Milena und die anderen greifen zum Füller, sie schreiben über ihren Mai-Ausflug nach Eckernförde. Ann-Christin greift zur PC-Tastatur. Lässt ihre Finger tänzeln, die von „großen Fischstäbchen“ berichten. Buchstaben flitzen über den Bildschirm, jeder kann sie lesen, teilhaben an den Fischstäbchen. Will Ann-Christin lesen, gleiten die Finger zur Braille-Zeile hinab. Weiße Mini-Noppen, die sich heben und senken, Reliefs statt Buchstaben. Die Blindenschrift. Pregla versteht diese Muster, acht Unterrichtsstunden pro Woche ist sie Ann-Christins sehende Hälfte. Eine Form von Betreuung? Sie wehrt ab: „Sie ist doch nicht pflegebedürftig.“ Pregla sagt: „Ich unterstütze sie.“

Vom Säuglingsalter zur Berufsschule: Lebensphasen, die 75 MitarbeiterInnen der Schleswiger Schule begleiten. Meist sind es Sonderschulpädagogen. Orientierungslehrer machen Blinde mit dem weißen Stock vertraut. Für hygienische Fragen kommen Reha-Lehrer hinzu, für diagnostische ein Psychologe. Zudem gehören Sehhilfen-Berater und ein Bewegungstrainer zum Kollegium, das 730 junge Menschen betreut, darunter auch geistig Behinderte.

Ganz hinten im Klassenzimmer, da hat sie ihr Reich, ihr Rüstzeug ist auf drei Tische verteilt. Keine Festung, Ann-Christin wird nicht übersehen. „Sie würde uns fehlen“, sagt Vivienne, „sie macht immer Witze.“ In der Malstunde gerade nicht. Konzentration. Und feste Striche mit einem Spezialstift auf einer Spezialunterlage. Das Herz, das unter ihrer Mine entsteht, sieht sie nicht. Sie fühlt es. Die „Ilvesheimer Zeichentafel“ lässt Linien aufquellen. Wieder ein Relief, das ihre Hände lesen. Materialen wie Magnettafeln und Länderkarten leiht Susanne Pregla in Schleswig. Die Schule dient als Medienzentrum, zudem werden dort Bücher in Großschrift gedruckt.

19 Augenbinden liegen parat in Klasse 4. Vivienne, Milena und die anderen sollen erfahren, was Blindheit bedeutet, was der Tastsinn kann, wie Ann-Christin durchs Leben geht. „Sie tut den anderen gut“, sagt Pregla, „sie fordert Toleranz heraus.“ Für diese Erfahrung hat die Sonderschulpädagogin gesorgt. Mit den Buchholzer Kollegen stimmt sie Lehrpläne und Lernmethoden ab. Und besucht Ann-Christins Eltern, hilft bei Behördengängen, verhilft zu Vertrauen in die künftige Selbständigkeit ihres Kindes.

Der Schulgong. Geschafft. Ann-Christin schnappt ihr Diktiergerät, murmelt Silben hinein, die sich überschlagen. „Meine Hausaufgaben“, sagt sie, putzt wieder mal ihre Brille, „ciao, Susanne“ und zieht sie an sich. „Du trägst ja rooot.“ Ein Farbschimmer trotz zerstörter Netzhaut? „Meine Augenärztin kann sich das auch nicht erklären“, Ann-Christin lacht, „sie sagt: Ich bin ein kleines Wunder.“