Die Jalousie geht runter

aus Frankfurt am Main KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT

Der September naht. Es ist wieder Automobilmesse in Frankfurt am Main. Wie in allen ungeraden Jahren wird der Verkehr dann wieder zusammenbrechen. Auch der Nahverkehr. Den betreibt in Frankfurt der Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV). Und der schickte schon während des Evangelischen Kirchentags 2001 nur einige „Kurzzüge“ zusätzlich auf die Reise etwa zum S-Bahnhof am Frankfurter Flughafen. Auf den Bahnsteigen dort warteten rund 10.000 Gläubige bereits stundenlang auf ihren Abtransport in die City. Am Gleis standen dann aber so wenige Waggons, dass es zu Erstürmungen kam. Während der IAA mit ihrem Millionenpublikum drei Monate später kamen die „Kurzzüge“ erneut zum Einsatz. Der RMV ist eben eine lernresistente Organisation.

Das Auto ist keine Alternative. Schon 50 Kilometer vor der Stadt staut sich der Verkehr aus allen Himmelsrichtungen. Schritttempo überall. Die deutschen Automobilbaugiganten und ihr Dachverband denken deshalb seit einigen Jahren immer wieder laut darüber nach, der Messe für die Lastkraftwagen hinterherzuziehen und die IAA nach Hannover zu verlegen. Auch die „Macher“ der Buchmesse gingen noch im März mit Abwanderungsgedanken schwanger. Die Verlage störte allerdings nicht nur das Verkehrschaos zu Messezeiten, sondern das Preisniveau in den Hotels und Pensionen. Es ist horrend hoch. Nur mit zähen Verhandlungen konnte Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU) die Verlagerung der Buchmesse nach München noch verhindern.

Der Stau ist ein Billd für die aktuelle Situation der Stadt ganz allgemein. Alles steht. Schon mäkeln renommierte Unternehmensberater am „Finanzplatz Frankfurt“ herum. „Soll Berlin doch Hauptstadt werden; Hauptsache, das Geld bleibt in Frankfurt“, hatte der hessische Ministerpräsident Hans Eichel (SPD), heute Bundesfinanzminister in Berlin, noch Anfang der 90er-Jahre getönt. Jetzt scheint sich auch das Geld aus Frankfurt zu verabschieden. Nach Auffassung von Finanzwissenschaftlern der ansässigen Goethe-Universität hat die Frankfurter Börse vehement an Bedeutung verloren – und das nicht nur wegen der dramatischen Einbrüche am deutschen Aktienmarkt. Die gescheiterte Fusion mit der Börse in London, die hauptsächlich von der Deutschen Börse AG angestrebt worden war, habe das internationale Ansehen des Finanzplatzes beschädigt, so die Experten. Im Gegenzug sei die zweite große Kontinentalbörse in Paris aufgewertet worden.

Zudem erschüttert die Bankenkrise die Finanzmetropole. Zu spät haben die Geldinstitute damit begonnen, ihre gewaltigen Kosten- und Strukturprobleme zu lösen. Überall kam es zu Panikreaktionen und Massenentlassungen. Selbst beim Branchenleader Deutsche Bank, dessen Zwillingstürme „Soll und Haben“ hoch in den Himmel über der City ragen, wurden im vergangenen Jahr rund 10.000 Menschen entlassen. Auch 2003 werden weiter Stellen abgebaut. Alles zum Wohle der Shareholder – und zum Nachteil der Stadt. Sie hat den den Imageschaden und muss mit weiteren Einnahmeausfällen rechnen: bei der Gewerbesteuer und bei den Frankfurt zustehenden Anteilen an der Lohnsteuer. Im Gegenzug wächst wegen der steigenden Arbeitslosigkeit das Heer der sozial Bedürftigen.

Dabei ist Frankfurt schon jetzt so gut wie pleite. Das Innenministerium als Kommunalaufsicht hat den Haushalt 2003 längst unter Kuratel gestellt. Neue Schulden darf die Stadt eigentlich nicht mehr machen, sie schiebt einen Schuldenberg von rund 1,8 Milliarden Euro vor sich her (siehe Kasten). Ohne neue Kredite allerdings könnten noch nicht einmal mehr alle Löhne und Gehälter bezahlt werden. Not macht erfinderisch. Im Kassen- und Steueramt wird auch schon einmal ein Kredit bei einer irischen Bank geordert, wenn die gerade besonders günstige Zinsen anbietet.

Um aus der fatalen Situation herauszukommen, wurden diverse Konsolidierungsprogramme entwickelt, die allerdings zwischen den Regierungsparteien CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP umstritten sind – und es wohl auch bleiben werden. Deshalb geht auch politisch wenig bis nichts. Von den winzigen Oppositionsparteien FAG (Flughafenausbaugegner), Europapartei, Ökolinx (Jutta Ditfurth) oder den „Republikanern“ können unter diesen Umständen keine Impulse für die Stadt ausgehen. Die gigantische Viererkoalition hat die Opposition ausgeschaltet. Lähmungserscheinungen sind die Folge.

Und das ausgerechnet in einer Kommune, die früher euphorisch wegen ihre innovativen Politik auch international als Vorbild galt. Allerdings war da noch Geld im Stadtsäckel. Frankfurt war die erste Metropole mit einem Amt für multikulturelle Angelegenheiten. Und Frankfurt war die erste Großstadt in Deutschland, die mit einem grünen Kämmerer aufwartete – Tom Koenigs, der den Korruptionssumpf in der Stadtverwaltung trockenlegte. Unter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann (SPD) avancierte Frankfurt zur Kulturhauptstadt der Republik. Das prächtige Museumsufer entstand. Die Giganten der Branche übernahmen gerne Engagements am Schauspielhaus und an der Oper. Das experimentelle Theater – etwa im legendären TAT (Theater am Turm) – war hier zu Hause. Die freie Kulturszene wurde gefördert.

Und heute? Überall gehen die Jalousien runter. Das politische Leben steckt in Agonie. Die ansässigen Zeitungen, die Frankfurter Rundschau und die Frankfurter Allgemeine, kämpfen ums Überleben. Die Anzeigen sind auf die Hälfte geschrumpft, auch die Auflagenzahlen sind rückläufig. Offenbar interessieren sich immer weniger Menschen für das „sinnlose Parteiengeplänkel“ im Römer, wie es jüngst in einem Leserbrief an die Rundschau hieß.

Dort ist der kulturelle Kahlschlag längst beschlossene Sache. 2004 wird das TAT dichtgemacht und das gefeierte Ballett Frankfurt aufgelöst. Schon vergangenes Jahr hatte der provinzielle Kulturdezernent Hans-Bernhard Nordhoff (SPD) den renommierten Intendanten William Forsythe mit einem lächerlichen Etatangebot dazu getrieben, seinen Vertrag nicht mehr zu verlängern. Fassungslosigkeit überall. Die „Kulturmetropole Frankfurt“ war – neben der Internationalität – der wichtigste weiche Standortfaktor. Auch für die Mitarbeiter in der der Europäischen Zentralbank (EZB). Schon wird in dem aus allen Nähten platzenden EZB-Tower in der City von Umzug gesprochen. Von Paris als neuem Standort ist immer öfter die Rede. Schließlich soll mit Jean-Claude Trichet bald ein Franzose Präsident der EZB werden.

Mit einer eben erschienenen Broschüre versucht jetzt die mächtige Industrie- und Handelskammer den „Finanzplatz Frankfurt“ wieder gesundzubeten. „Wir wissen alle, dass Frankfurt deutlich besser ist als sein Ruf“, so IHK-Präsident Wolf Klinz bei der Vorstellung. Doch so ganz von selbst wird sich das „schlechte Image“ (Klinz) der Finanzmetropole wohl nicht verflüchtigen. Das weiß auch der IHK-Boss. Er fordert deshalb den Umzug der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht von Berlin und des Ausschusses für Bankenaufsicht der Europäischen Union von Basel nach Frankfurt. Das werde den Finanzplatz rasch aufwerten. Den Wissenschaftlern von der Frankfurter Universität reicht das nicht. Die acht Regionalbörsen in Deutschland sollten umgehend der Frankfurter Börse unterstellt werden, fordern sie.

Ein unkonventioneller Vorschlag zur Rettung der Kulturlandschaft vor dem Rotstift kam jetzt ausgerechnet vom „Kulturpapst“ im Ruhestand, Hilmar Hoffmann. Die Museen sollten sich von einigen ihrer wertvollsten Exponate trennen. Mit dem Verkaufserlös könnten die Etats der Theater aufgestockt werden. Das TAT wie das Forsythe-Engagement seien so vielleicht noch zu retten.

Was der Magistrat dazu sagt? Vorläufig nichts. Immerhin scheint man im Römer aber begriffen zu haben, dass die Stadt endlich ihre Reformfähigkeit unter Beweis stellen muss, um den way down zu stoppen. Es sei „allerhöchste Zeit, die Probleme der Stadt mit der nötigen Schnelligkeit und Klarheit zu lösen“, sagte jüngst der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Stadtparlament, Lutz Sikorski, und fügte selbstkritisch hinzu, die Bilanz der Viererkoalition für die letzten beiden Jahre falle „erschreckend düster“ aus.

„Privatisierung“ heißt jetzt das Zauberwort bei den Grünen, die sich als Einzige aus der Deckung wagen. Sie haben die Messe, die Stadtwerke und die Beteiligung am Flughafen zur Disposition gestellt. Sozial- und Christdemokraten monierten umgehend, die Stadt verliere damit Einfluss auf die wichtigen Felder Wirtschaft-, Energie- und Verkehrspolitik; Beifall kam nur von der FDP. Die Viererkoalition zeigt sich wie üblich gespalten. Statt über Verkauf wird nun über Vermietung nachgedacht – eine absurde Debatte. Das U-Bahn-Netz soll per „Crossborder-Leasing“ für 99 Jahre an einen US-amerikanischen Finanztycoon gehen. Ist die Stadt noch zu retten? So wohl nicht.