G-8-Staaten treten die Leiter weg

Der G-8-Gipfel will mit der WTO-Handelsrunde und Abbau von Zollschranken den armen Ländern helfen. Geht das?

Die Verhandlungen um eine neue Welthandelsrunde stecken seit dem Scheitern der Konferenz von Cancún voriges Jahr in einer kritischen Phase. Jetzt haben die G-8-Staats- und Regierungschefs ihren Unterhändlern Druck gemacht. Bis Ende Juli sollen sie zu einem ersten Ergebnis kommen. Die G 8 wollen damit besonders den armen Ländern helfen. Sagen sie. Doch die Realität sieht anders aus: Eine Einigung nach G 8-Vorstellungen würde armen Ländern eher schaden als nutzen.

Die Erklärung der G 8 klingt auf den ersten Blick verlockend: Sie wollen die Agrarsubventionen senken. Diese Subventionen sind verantwortlich dafür, dass Entwicklungsländer bei den künstlich niedrigen Weltmarktpreisen nicht mehr mithalten können. Doch als Gegenleistung für dieses Zugeständnis verlangen die großen Industrienationen weitere Marktöffnungen für den Handel mit Waren und Dienstleistungen. Dahinter steckt ein historisches Prinzip: Als die jetzt reichen Länder noch arm waren, haben sie ihrer Industrie durch hohe Schutzzölle ermöglicht, sich zu entwickeln. Doch den derzeit armen Ländern wird diese Chance durch die WTO verwehrt. Die Industriestaaten treten ihnen die Leiter weg, auf der sie selbst nach oben geklettert sind. Die anderen werden mit etwas mehr Agrarexporten abgespeist – eine Industrialisierung können sie bei weltweiter Konkurrenz und offenen Märkten aber vergessen.

Dabei kann Freihandel wirklich mehr Wohlstand schaffen. Wenn Staaten mit gut funktionierenden, entwickelten Märkten auf Augenhöhe miteinander handeln, führt verstärkter Wettbewerb zu mehr Effizienz. Bestes Beispiel ist die EU. Verhandeln jedoch reiche und arme Länder miteinander, gibt es meist einen Verlierer: die Entwicklungsländer. Sollten Entwicklungsländer deswegen jedoch ganz auf Freihandel verzichten? Nicht unbedingt: Mehr als vom Handel mit den Reichen können sie sich nämlich vom Handel untereinander versprechen. Und hier gibt es noch viel zu erreichen. Zölle zwischen Entwicklungsländern sind oft weit höher als die zwischen Entwicklungs- und Industrieländern. Eine Süd-Süd-Handelsrunde könnte dem abhelfen. Dann würden China, Argentinien oder Indonesien untereinander die Zölle senken und könnten den so generierten Wohlstand für sich behalten. Doch dafür brauchen sie die WTO nicht.

Konkret wird die Idee am Wochenende auf dem Treffen der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung in São Paulo. Brasilien, Indien und andere wollen eine eigene Handelsrunde starten. Eingeladen sind nur Entwicklungsländer. Das Ziel formulierte Brasiliens Präsident Lula da Silva jüngst beim Besuch in China: „Wir wollen eine neue Geografie des Handels.“

Den G 8 ist ein Erfolg bei der WTO sehr wichtig. Die Liberalisierung des Handels ist für sie der Schlüssel zu wirtschaftlichem Wachstum. Wenn sie jetzt Druck machen und eine schnelle Einigung bis Juli forcieren, dann wollen sie auch dem Alternativprojekt des Südens zuvorkommen. Für einen echten Erfolg der WTO-Runde müssten die G 8 jedoch umdenken: Sie müssen den armen Ländern die Chance geben, ihre Märkte dann erst zu liberalisieren, wenn sie wettbewerbsfähig sind. Ihre Gipfelrhetorik der Armutsbekämpfung durch Handel nimmt ihnen in der Dritten Welt nämlich keiner mehr ab. NIKOLAI FICHTNER