Versöhnungsbotschaft nach zehn Jahren Haft

Nach ihrer Freilassung appelliert die kurdische Politikerin Leyla Zana an ihre Landsleute in der Türkei, einen neuen Weg einzuschlagen. Die feiern nicht nur Zanas Freilassung, sondern auch die erste kurdische Sendung im Staatsfernsehen

ISTANBUL taz ■ „Jetzt ist nicht die Zeit für Streit oder Abrechnungen, wir wollen jetzt nach vorne schauen und ein neues Kapitel in der Türkei aufschlagen.“ Die kleine Frau mit dem dunklen Pagenkopf wirkte erschöpft und ein bisschen überfordert. Eingeklemmt zwischen ihren Mitstreitern und hunderten von Anhängern musste sie nun, nach zehn Jahren im Gefängnis und erst wenige Minuten wieder in Freiheit, unbedingt etwas sagen.

Nicht nur ihre Anhänger erwarteten, dass Leyla Zana sprach. Fast das ganze Land wartete gespannt vor den Bildschirmen, welche Worte sie finden würde. Es war eine versöhnliche Botschaft, die die bis dahin bekannteste kurdische Gefangene der Türkei in der Stunde ihrer Freiheit verkündete. Auch wenn sie traurig sei über die vielen anderen, die noch im Gefängnis sitzen, gehe es jetzt darum zueinander zu finden, sich zu versöhnen und einen neuen Weg einzuschlagen.

Nur unwillig lässt sie sich bewegen, die Arme zum Zeichen des Sieges hochzureißen, sie will nicht gefeiert werden, sondern erst einmal ein wenig Ruhe haben. „Keine Fragen, bitte“, wehrt sie den Ansturm von Presse und Fans ab, „ich bin sehr müde.“

Schon auf dem kurzen Weg aus dem Gefängnistor bis zu dem bereitstehenden Auto wäre sie von dem Pulk von Kamerateams und politischen Anhängern, die sich nach dem Gerücht über ihre Freilassung blitzschnell vor dem Gefängnis in Ankara versammelt hatten, fast erdrückt worden. Fast zeitgleich mit ihrer ersten Pressekonferenz im Hauptquartier der prokurdischen Dehap in Ankara, versammelten sich die ersten hundert Menschen vor dem Rathaus in Diyarbakir, um ihre Freilassung gemeinsam zu feiern. Für die kurdische Stadt war Zana 1994 als Abgeordnete ins Parlament in Ankara eingezogen.

Es war ein historischer Tag für die Kurden in der Türkei, ein Tag, der tatsächlich zum Beginn einer neuen Zeitrechnung werden könnte. Zunächst füllten sich am Morgen die Teegärten, weil viele Kurden gemeinsam die Premiere einer kurdischen Sendung im offiziellen Staatsfernsehen der Türkei erleben wollten. „Ich glaubte zu träumen, und ich hatte Angst aus dem Traum wieder aufzuwachen“, sagte anschließend der kurdische Schriftsteller Seyhmus Diken. Der Dehap-Bürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir, äußerte sich dagegen wesentlich zurückhaltender. „Es ist ein erster Schritt“, sagte er gegenüber Reportern, „aber damit löst man noch nicht die kurdische Frage.“

Am Nachmittag dann trafen sich die Leute erneut, dieses Mal um ausgelassen die Freilassung von Leyla Zana, Hatip Dicle, Selim Sadak und Orhan Dogan zu feiern. Alle vier waren 1994 aus dem Parlament heraus verhaftet und wegen Unterstützung der PKK zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. Nach einer Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, der das Verfahren als „unfair“ gerügt hatte, wurde 2003 der Prozess neu aufgerollt. Doch das zuständige Staatssicherheitsgericht kam nach einem Jahr Prozessdauer, in dessen Verlauf eine Haftentlassung von Zana mehrfach abgelehnt wurde, am Ende zu demselben Ergebnis, wie zehn Jahre zuvor. Dieser offensichtliche politische Prozess wurde nicht nur von der EU, sondern auch in der Türkei heftig kritisiert und führte mit dazu, dass die regierende AKP die Staatssicherheitsgerichte im Eilverfahren auflöste.

Am Mittwochvormittag entschied dann der Oberste Gerichtshof (Yargetay), die vier kurdischen Politiker aus der Haft zu entlassen, obwohl eine Entscheidung über das weitere Verfahren erst am 8. Juli getroffen wird.

Die türkische Regierung begrüßte die Entscheidung ausdrücklich als eine Bestätigung für die Vertrauenswürdigkeit der Justiz. EU-Kommissar Günther Verheugen, der für den Bericht der Kommission zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei verantwortlich ist, bezeichnete die Freilassung als Beweis dafür, dass der Reformprozess tatsächlich erste Ergebnisse zeitigt. Die Schlagzeile der größten Zeitung Hürriyet hieß schlicht: „Die letzten Hindernisse (auf dem Weg in die EU) sind weggeräumt“.

JÜRGEN GOTTSCHLICH