normalzeit
: HELMUT HÖGE über den Kampf ums Glück

Die Ausrüstung der Ich-Armee

Das Kraftwerk Zschornewitz nahe des Braunkohletagebaus Golpa-Nord bei Bitterfeld war lange Zeit das größte Kraftwerk der Welt: Grökaw. Die Kraftwerker wohnten in einer Hufeisensiedlung direkt drumherum. 80 Jahre nach seinem Bau – 1993 – wurde das Werk in ihrer Mitte weggesprengt: es war zu unrentabel und unökologisch geworden: „marode“, wie man im Spiegel sagt. Die arbeitslos gewordenen Kraftwerker filmten die letzten Minuten ihres Werkes mit Videokameras. Zu DDR-Zeiten hatten etliche von ihnen in einem 8mm- und Super-8-Filmzirkel gearbeitet. Auch damals hatten sie schon bestimmte Aspekte ihres Arbeitslebens gefilmt, vorwiegend jedoch Aspekte ihrer Freizeit.

Als nun vor ein paar Jahren zwei glatzköpfige junge Filmemacher aus Babelsberg – Stefan Kolbe und Chris Wright – bei ihnen anrückten, drückten sie diesen ihr ganzes geschnittenes Material in die Hände (über einhundert Stunden), dazu noch eine Menge Texte des im VEB Zschornewitz ebenfalls sehr aktiv gewesenen Zirkels schreibender Arbeiter. Die beiden Filmemacher waren darüber so gerührt, dass sie ihr eigenes Filmen völlig vergaßen und stattdessen ihre Abschlussarbeit aus den überlassenen Materialien zusammenstellten. Das Ganze nannten sie dann – nach einem Vorschlag ihres Filmberaters Martin Otting – „Technik des Glücks“. Die Arbeiter waren zufrieden mit dem Ergebnis und wir, die wir den Film neulich im Babylon sahen, begeistert. Das komplette Material wird übrigens mit Geldern des Landes Sachsen-Anhalt auf DVD gebrannt. Und der Film läuft heute Abend noch einmal in der Weißenseer Brotfabrik.

Sein Titel „Technik des Glücks“ geht auf Franz Jung zurück: Es ist seine Aufstandanleitung in vier Übungen, die – ausgehend von der Erkenntnis der eigenen Lage – erst mal der Bekämpfung der Lebensangst dienen. Im Film geht es jedoch nicht um die Organisierung des Widerstands gegen die Treuhand, die hier die Arbeitsplätze mit Dynamit vernichtete, sondern um „Den Blick des kleinen Mannes auf sein Glück“, wobei mit Technik hier wohl deren Schmalfilm- und Videoausrüstung gemeint ist.

Ähnlich verwirrend war es zuvor bereits auf einer Kirchentags-Großveranstaltung zugegangen: Auf der Bühne wurde die weltberühmte Pornografin Catherine Millet vorgestellt, die gerade ein neues Buch – über Zwerge als die größten Stecher – veröffentlichte. Sie diskutierte mit zwei Theologen über den „Kampf ums Glück“. Dazu las man ein Kapitel aus ihrem ersten Buch „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ vor: „Jacques’ Eier klatschten gegen meinen Arsch … Nachdem er in mir abgespritzt hatte, zuckte er noch drei Mal …“ usw. Donnernder Applaus des Publikums im Messe-Sommergarten. Der evangelische Theologe setzte später noch ein Kapitelchen von einem männlichen Pornografen drauf, in dem dieser den dicken Zellulitis-Hintern seiner Geliebten über alle Maßen pries. Noch mehr Applaus!

Zur großen „Kampf ums Glück“-Debatte gehörten auch drei Sportler. Ein Basketballer von Alba meinte: „Das Glück ist der Sieg, aber es ist sehr kurz, am nächsten Tag kämpft man schon wieder für die nächste Meisterschaft.“ Für einen sich selbst über Sponsoren vermarktenden Profi-„Treppensteiger“ bestand das Glück darin, ganz oben in den Hochhäusern anzukommen „und einen Blick über Manhattan“ zu werfen. Auch ein Bergsteiger sprach dann vom puren „Gipfelglück“. Seiner Meinung nach setze es sich aus „Leistung plus Umstände, Wetter z. B., und Risikoprickeln“ zusammen, wobei es schon einen Unterschied mache, „ob man einen 4.000er oder einen 6.000er besteigt“.

Für Catherine Millet bestand jedoch gerade darin – ob sie sich nun von 4.000 oder von 6.000 Männern „stopfen“ lasse – nicht das Glück, das ihrer Meinung nach nichts mit Höhepunkten oder sexueller Befreiung zu tun habe: „Ich wollte dieser Utopie meine reale Sexualität gegenüberstellen, im Übrigen suche ich nicht das Glück, sondern das Vergnügen. Und da hatte ich es, sehr liberal-katholisch erzogen, möglicherweise leichter als andere: Ich bin schon ohne Tabus auf die Welt gekommen!“

Der evangelische Pfarrer war ein begeisterter Millet-Leser, weil sie die christlich aufgeladene Sexualität „entstresst“ habe. Als „Entstressungstheoretiker“ ging er so weit, dass er am Ende gar ein Loblied auf den „langweiligen Liebhaber“ sang. Die katholische Theologin gab dem gegenüber der Pariser Pornografin Kontra: 1. seien ihre Schilderungen ein „alter Hut“, weil Millet es stets vorziehe, „passiv von den Männern genommen zu werden“. Dabei gehe es heute eher um eine „Entwicklung bzw. Kultivierung des weiblichen Begehrens“. 2. waren ihr die Schilderungen zu oberflächlich, denn die „Authentizität ist ja auch bereits normiert“. Und 3. sei Millets Aufspaltung „in Körper und Seele“, wobei sie sich auch noch auf den Katholizismus berufe („ich identifiziere mich nicht mit meinem Körper, der nur eine Hülle ist“), theologisch kaum mehr haltbar – wenn nicht sogar falsch.

Der evangelische Theologe pflichtete ihr bei und wollte ebenfalls beim Ficken nicht gern geistig außen vor bleiben, meinte jedoch gegenüber der Katholin noch einmal betonen zu müssen: „Das Leiden sollte man nicht zu hoch hängen. Glück hat etwas mit Seelenfrieden und nicht so viel mit Euphorie zu tun.“ Die Pornografin sah das ähnlich: „Der körperliche Kontakt war für mich bloß der einfachste Zugang zu den Anderen.“ Die Katholin bestand aber darauf, dass dieser „Kontakt“ ein „Mysterium“ sei. Dazu assoziierte der Evangele sogleich: „Ekstase, Religion, Nähe“. Für Millet bedeutete Nähe aber nur „Vertrauen – auch und gerade in kurzen Begegnungen, in denen man vielleicht sogar freier ist“. Bei dieser Kirchentags-Großveranstaltung kam das kollektive Glück nur noch in der „Mannschaft“ bzw. im „Gruppensex“ und die Gesellschaft (le social) als „Gangbang“ vor.

Etwas anders war es dann bei der Love Parade gelagert, wo es die breite Masse wieder mal brachte, wenn man der Springerstiefelpresse glauben darf.