Vraiment magnifique

Alexander Winokurow wurde einst von Telekom eingekauft, um Jan Ullrich zu helfen. Nun ist der Kasache hartnäckigster Verfolger von Lance Armstrong. Der Däne Piil gewinnt die 10. Etappe

aus Marseille SEBASTIAN MOLL

Ein Mann vieler Worte ist Alexander Winokurow nicht. Vielmehr hat der 29 Jahre alte Kapitän des Teams Telekom die Gabe, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Als ihn Luc Eisenga, der Verbindungsmann zur internationalen Presse bei der deutschen Equipe, am Ziel in L’Alpe d’Huez euphorisch mit den Worten begrüßte, „Mensch, du hast Armstrong 30 Sekunden abgenommen“, erwiderte der Kasache nur: „C’est bien.“ Und weil es so gut war, fuhr Winokurow gleich am nächsten Tag noch einmal auf und davon und gewann die Etappe nach Gap mit 36 Sekunden Vorsprung. „Vraiment magnifique“, wirklich wunderbar, war diesmal sein Kommentar. Für den Mann aus Petropawlowsk war das bereits ein großer Gefühlsausbruch.

Ja, wirklich toll war es, was Winokurow in den Alpen abgeliefert hat. Er hatte sich am Sonntag an der mannschaftsübergreifenden Offensive gegen Armstrong nicht bloß beteiligt, sondern er war nach Tagessieger Iban Mayo sogar einer von zwei Fahrern, denen es gelang, dem Amerikaner zu entkommen. In den vergangenen Jahren haben das bei der Tour nicht viele Radsportler geschafft, wenn Armstrong sie als Gegner ernst nahm. Eigentlich nur Richard Virenque und Jan Ullrich im Jahr 2000, als der Amerikaner am Joux-Plane seinen bislang einzigen Schwächeanfall in vier Jahren hatte.

Gut war die Vorstellung von Winokurow aber vor allem für seine geplagte Mannschaft. Teamchef Walter Godefroot hatte zu Beginn des Jahres gleich drei hochklassige Rundfahrer eingekauft, mit denen er Armstrong bei der Tour die Hölle heiß machen wollte; Winokurow, seit drei Jahren im Team, war eigentlich nur der vierte Mann dieser Riege. Doch zwei fielen bereits vor dem Tour-Start aus: Cadel Evans brach sich das Schlüsselbein, Paolo Savoldelli ereilte eine Viruserkrankung. Der dritte, Santiago Botero, im Vorjahr Tour-Vierter, kämpfte sich mit einer miserablen Form durch die Alpen und verlor dort 40 Minuten auf die Besten.

Winokurow irritierte das alles nicht. Vor dem Start in Paris gab er in seiner charakteristisch präzisen Art als Ziel für die Tour an: „Podium, Minimum“. Unter die ersten drei will Winokurow mindestens, am besten noch weiter nach vorne. Ganz ernst nahm das zunächst niemand, obwohl Winokurow in diesem Jahr bereits den holländischen Frühjahrsklassiker Amstel Gold Race, die Fernfahrt Paris–Nizza und die Tour de Suisse gewonnen hat.

Seit Sonntag unterschätzt niemand mehr Alexander Winokurow. Er hat sich eingereiht in die Phalanx der sieben, acht Fahrer, die Armstrong herausfordern, steht auf einer Stufe mit Männern wie Tyler Hamilton, Iban Mayo oder Jan Ullrich. Durch seinen starken Auftritt und durch den Ausfall von Joseba Beloki, der am Montag bei seinem schweren Sturz mehrere Knochenbrüche erlitt, liegt Winokurow auf dem zweiten Gesamtrang, nur 21 Sekunden hinter Armstrong. Diesen Platz behauptete er auch gestern auf der 10. Etappe von Gap nach Marseille, wo alle Favoriten im Hauptfeld ankamen. Tagessieger wurde der Däne Jakob Piil, der sich in einer neunköpfigen Ausreißergruppe von Fahrern abgesetzt hatte, die keine Rolle in der Gesamtwertung spielen und über 20 Minuten Vorsprung herausfuhren. Am Ende setzte sich Piil im Sprint gegen den Italiener Fabio Sacchi durch.

An das gelbe Trikot möchte Winokurow noch nicht denken. Er steckt sich seine Ziele bestimmt nicht zu niedrig, aber davor, konkret den Tour-Sieg ins Auge zu fassen, scheut er sich noch: „Ja, daran gedacht habe ich schon. Aber davon träumen und es tun sind zwei unterschiedliche Dinge.“ Winokurow weiß nicht, wie hoch er greifen kann. Denn Kapitän einer Mannschaft, mit der Freiheit, zu zeigen, was er kann, war er noch nie. Selbst zu Beginn dieser Tour war er es noch nicht, fest steht seine Stellung in der Mannschaftshierarchie eigentlich erst seit L’Alpe d’Huez. Winokurow wurde vor drei Jahren von der französischen Mannschaft Casino zu Telekom geholt, um Jan Ullrich zu unterstützen. Jetzt ist er plötzlich ein Rivale seines ehemaligen Chefs, mit dem ihn bis heute eine tiefe Freundschaft verbindet. Im vergangenen Winter besuchte Ullrich Winokurow sogar in Kasachstan und die beiden gingen zusammen Gänse jagen.

Die Beförderung zum Nachfolger seines Freundes bei Telekom möchte Winokurow nun dazu nutzen, seine eigenen Möglichkeiten auszuloten: „Ich möchte wissen, wo meine Grenzen liegen, wie weit ich in einer dreiwöchigen Rundfahrt kommen kann.“ Eineinhalb Wochen hat er jetzt noch Zeit dazu. Der Anfang in den Alpen war vielversprechend.