Boten aus dem Sternenreich

„Oho, Prag! Da sieht’s bestimmt schöner aus als bei uns“, argwöhnt die Frau aus Südtirol

AUS BRESLAU, PRAG, MERAN UND WIEN THOMAS GERLACH

Der Marktplatz von Breslau ist zwar einer der größten in Europa, doch manchmal ist er zu eng für all die verkleideten Gestalten, die Besucher umwerben. Alf, Paulchen Panther und Lenin wollen ihnen nur ein paar Złoty entlocken, eine Balkankapelle belagert jedes Café, bis sogar Taube einen Groschen geben, und eine Sopranistin singt ein Klagelied vor einem Schaufenster mit dem Schriftzug „reslau in Europa“. Wenn er ein Pessimist wäre, könnte Paweł Moras einstimmen – aber der 29-jährige Kandidat der „Platforma Obywatelska“, der konservativen „Bürgerplattform“, für das Europäische Parlament ist ein eleganter Optimist mit silbrig-grauem Haar und europablauem Herzen am Revers.

Moras ist ein Schwiegermuttertyp, würden allein sie wählen, bekäme er hundertzehn Prozent. Aber in Polen leben Bauern, Rentner, Wirtschaftsgewinnler und Enttäuschte, Skeptiker und ein ganzes Heer von Politikverdrossenen, und so tingelt Paweł Moras von Zgorzelec bis Oppeln, um den Menschen Europa nahe zu bringen, sich selbst gleich mit – und nach Möglichkeit auch Frau Marysia und die fünfmonatige Natalia. Sie sind Wahlkampfteam und Bekenntnis des Familienvaters Paweł Moras, im Hauptberuf Koordinator für Wirtschaft und Infrastruktur bei der Breslauer Stadtverwaltung.

Ob die schöne Dreieinigkeit und der akkurate Anzug reichen werden? Spuren vom Wahlkampf sind selten: Gelegentlich Zettel an Litfaßsäulen und auf Straßenpflaster, mal ein Transparent. „Die Gründe liegen in Warschau“, sagt Moras. Keiner wisse, wann Neuwahlen für den Sejm, das Parlament, stattfinden, um wieder eine stabile Regierung zu bekommen. Alle Parteien halten die Kassen bis dahin geschlossen. Pech für EU-Ambitionierte, noch mehr Pech für junge Kandidaten, die über eine gute Ausbildung, aber nicht über ein hohes Bankkonto verfügen.

Da die Kandidaten zwar von den Parteien nominiert, anders aber als in Deutschland direkt gewählt werden, ist jeder Einzelkämpfer. Wer Zettel tapezieren lässt, Fernsehauftritte kauft und das Blaue vom Himmel verspricht, hat gute Chancen wie etwa die „Samoobrona“, die „Selbstverteidigung“ des Rechtspopulisten Andrzej Lepper, die eine Neuverhandlung des EU-Vertrags verspricht, wofür das Parlament gar nicht zuständig ist. Auch wer „Nizza oder Tod!“ ruft, wird gehört, wie der Fraktionschef von Moras’ eigener Partei im Sejm, Jan Rokita, der bald Ministerpräsident werden will. All das ruft Moras nicht.

Er sagt: „Wichtig ist, dass wir kompetente Kandidaten haben, wir sind Debütanten in Brüssel“, steckt den Kinderwagen in den Kofferraum und braust davon. Am Abend will Moras auf einem Motorrad ins Motocross-Stadion einreiten – wie ein Häuptling, der mit Squaw und Kind um sein Land kämpft, ein fernes sattblaues Reich mit goldenen Sternen, das hier kaum jemand kennt.

In Prag ist das anders. Dort haben die Parteien plakatiert, allen voran die Sozialdemokraten der ČSSD von Regierungschef Špidla und die bürgerliche ODS von Präsident Klaus. Und vor dem Lidovy dům, dem „Volkshaus“ der ČSSD, fünf Minuten vom Altstädter Ring entfernt, liegen Fotos der Kandidaten wie andernorts Bilder mit der Prager Burg. Oben im zweiten Stock kämpft Senator Falbr mit dem Schlaf. Richard Falbr, langjähriger Chef des Gewerkschaftsbundes ČMKOS, ist landauf, landab bekannt, schon seit Mai Abgeordneter in Brüssel und auf dem sicheren Listenplatz zwei. Brüssel ist gebongt. Falbr kann sich zurücklehnen.

Aber nicht jetzt, wo der spanische Genosse Enrique Barón Crespo zu Gast ist, der Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament. Falbr, ein 63-jähriger Hüne, silbriges Haar, Schnauzer, wankt auf seinem Stuhl, reibt sich Stirn und Augen, während der Spanier alle möglichen EU-Themen streift: Arbeitslosigkeit, Sozialpolitik, Antiterrorkampf, Drogenverkehr, Verhältnis zur UNO, zur Nato, zur USA, den Nahostkonflikt – es scheint ein krisengeschütteltes Land zu sein, diese EU.

Wohl deswegen werden am Wochenende die EU-Skeptiker gewinnen. Die Nachfragen gehen in diese Richtung: Wie steht es um den Kampf gegen Kriminalität und Prostitution? Der Applaus von zwei Dutzend Zuhörern ist pflichtschuldig. Falbr sollte sich ausschlafen, bevor er morgen mit den ČSSD-Bussen der „Euro-Karavana“ in Olomouc aufkreuzt – ihr Slogan „Europa hauptsächlich für die Menschen!“ Das müsste Falbr dringend für sich selbst beherzigen.

Weit weg von Falbr und seinem Gast steigt am anderen Moldauufer der pensionierte Ingenieur Štřelák in die Tram. Er hat eine kleine Wohnung und eine kleine Rente, das Leben könnte besser sein, aber auch schlechter, kurzum: er ist recht zufrieden und sagt: „Die Europawahl ist eine Komedie!“ – der Ingenieur betont die letzte Silbe. Die Union sei ohne Alternative für so ein kleines Land wie Tschechien. Aber die Wahl? Tschechien stehen 24 Sitze zu, das mache 24 neue Büros, Diäten, Reisegelder, es gehe um Posten und um Macht. Die Tram rattert zur Moldau hinunter. Da werde er dann wohl nicht wählen? „Na ja“, Štřelák windet sich, „ganze Parteien kann man nicht mehr wählen. Wenn es möglich wäre, Einzelne zu wählen … Es gibt noch welche, die anständig sind, sogar bei den Grünen.“

Draußen zieht ein Plakat der ODS vorbei. Spitzenkandidat Jan Zahradil schaut kompetent auf das regennasse Prag, aus dem ihn seine Partei gerade nach Brüssel weglobt, weil sie den radikalnationalistischen Politiker und EU-Hasser möglichst von ferne sehen will. Vermutlich werde er die Sozialdemokraten wählen, eröffnet Štřelák nach einer Pause, steigt aus und tippelt mit eingezogenem Kopf davon. Ein Sieg für Senator Falbr.

Am Abend läuft im Fernsehen ein Werbespot der Kommunisten, allesamt stramme EU-Gegner: Der erste tschechische Kosmonaut Vladímir Remek will trotzdem nach Brüssel. Den Kosmos erkundete er knapp eine Woche, das Europäische Parlament dürfte er fünf Jahre erforschen. Sein Stuhl ist sicher, den Kommunisten wird der zweite Platz hinter der ODS vorausgesagt.

„Oho, Prag! Da sieht’s bestimmt schöner aus als bei uns“, argwöhnt die Frau vom Luis, der seit dreißig Jahren treu zur Südtiroler Volkspartei SVP hält. Die Dame sucht Bestätigung. Doch solange in Meran nicht nur die Weinstöcke und Apfelbäume, sondern auch mancher Geranienkasten automatisch gewässert wird, liegt Prag sehr weit zurück und Breslau noch viel weiter. Der Luis holt sich grad ein Bier. „Alles kostenlos heut, der Ebnermichl zahlt!“, hat er gesagt. „Das schadet niemandem“, ergänzt seine Frau, „der Ebner verdient genug. Aber er gibt auch gern.“

Doktor Michael Ebner, seit zehn Jahren Abgeordneter in Brüssel und zum dritten Mal Spitzenkandidat der SVP, nennt einen Verlag und vieles andere sein Eigen. „Der Ebner ist noch verhindert, der trifft sich mit dem Industriellenverband“, raunt Luis’ Frau verständnisvoll. Und so warten gut fünfzig Meraner im Hof von Schloss Pienzenau inmitten von Gärten, wo sich schon Kaiserin Sissi delektierte. Und mit den rund fünfzig Gästen wartet artig auch Miss Südtirol.

Die SVP regiert mit absoluter Mehrheit im Südtiroler Landtag unten in Bozen. Hier oben dürften sie noch ein paar Anhänger mehr haben. Der Luis, der nicht nur mit Namen, sondern auch im Gesicht dem Luis Trenker gleichkommt, kassiere allein in seinem Stadtteil bei dreihundert Parteifreunden Beiträge, erzählt er. Luis hält inne. „Da kommt er!“ Klein, drahtig und Dreitagebart – der Ebnermichel. Luis’ Frau fängt an zu strahlen, das rote Kleid strafft sich, und die Gerti Schölzhorn mit ihrem Jäckchen, die gemeinsam mit ihrer Schwester das Schloss bewirtschaftet, hält sich dicht beim Ebner.

Nach ein paar Floskeln des Ortsvorstehers greift Ebner zum Mikrofon: Währungsunion, Osterweiterung und Verfassung – die EU befinde sich im großen Umbruch. Ebner bleibt bei der Erweiterung: „Bedenkt eins, wir haben unsere Sicherheitsgrenzen weit nach Osten geschoben.“ Die EU schaffe Wohlstand, damit sie dort blieben, wo sie sind. „Wenn wir nicht bereit sind, zu teilen, dann gibt’s Unruhe in der arabischen Welt!“ Schweigend hören sie zu.

Und die Autonomie Südtirols müsse immer wieder verteidigt werden, nicht nur in Rom, auch in Europa. „Denkt dran! Sagt’s den Abwesenden, dass Europa viel näher ist, als sie meinen!“ ruft Ebner. „Es ist wichtig, wie viel Leit die SVP wählen, das garantiert, dass wir als kleine Volksgruppe in einem fremden Land einen Mann in Brüssel haben.“ Es war Volkshochschule und Fastenpredigt in einem, jetzt braucht’s ein Bier.

Der Ebner hat den Bogen verdammt weit gespannt. Gern haben sie’s wohl nicht gehört. Doch der Luis hat seine klare Meinung: „Mein Vater hat zu uns Buben gesagt, wer Südtirol nach dem Krieg aufgebaut hat, der wird gewählt!“ So werden Luis und seine Frau bis zum Grab für die SVP stimmen. Ja, aber warum sind dann so wenig gekommen? „Ja …?“ Luis hadert. „Uns geht’s zu gut!“, sagt er etwas bitter. Seine Frau reißt eines von den blauen Tütchen auf, die Ebner mitgebracht hat. Drin sind Sterne aus Fruchtgummi, sie schiebt sich welche in den Mund, gibt dem Luis auch. „Mmh!“ Europa schmeckt heute Abend süß, vorläufig noch.

In Wien-Meidlingen gibt’s auch Gummis. „Was issn des?“ – „Das ist ein Kondom!“, sagt Veronika Reininger von den Grünen. Erstaunlich, schon gut eine Stunde nachdem sie ihren Pavillon in dem Arbeiterviertel im Westen der Stadt aufgebaut haben, sind nicht nur die Kondome bis auf einen Rest verteilt, sondern auch das andere Zeug. Einer hat sich die Taschen vollgestopft als würde morgen eine Papiernot ausbrechen und steht nun abseits. „Fragen Sie nur!“, ermuntert ihn Veronika Reininger. „Na, na, da wird man doch eh unterbrochen“, stänkert der und wendet sich ab.

So ist das, Verkehr, Trinkwasser, Grundrechte – lauter grüne Themen, doch wenn’s konkret wird, zieht der weiter. Die Grünen müssen sich strecken, wollen sie wie 1999 wieder zwei Angeordnete stellen. Damals reichten 9,6 Prozent, jetzt müssen’s 11 sein. Wegen der neuen Mitgliedsländer müssen die alten auf Mandate verzichten. Die österreichischen Grünen haben landesweit aber noch nie über 10 Prozent bekommen. „Das ist demotivierend,“ gesteht Monika Vana, Kandidatin auf Platz vier und damit aussichtslos.

Sie habe schon einige Europa-Wahlkämpfe mitgemacht, aber dieser sei der schwierigste. Obwohl Österreich seit neun Jahren in der EU ist, sei der Wissensstand kaum gestiegen. „Ich kann’s ja verstehen, so abgehoben, wie die EU agiert.“ Sei es der Irakkrieg oder der EU-Konvent – erst werden Hoffnungen gemacht, dann werden die Bürger enttäuscht. „Wir hoffen auf 50 Prozent Wahlbeteiligung“, sagt sie.

Gut möglich, dass sie 10 Prozent drunter liegt. Bundeskanzler Schüssel und seine ÖVP würden keinen großen Wert auf eine hohe Wahlbeteiligung legen. „Schüssel hat nie für ein starkes Parlament eingestanden.“ Der stehe für eine Politik des 19. Jahrhunderts, wo Regierungen möglichst alles aushandeln. Starke Parlamente störten da nur. Aber der Schüssel werde wohl wenigstens nicht Nachfolger von Romano Prodi als Kommissionspräsident.

Der Pavillon ist zusammengelegt, Monika Vana zieht laut telefonierend in der Mitte der Meidlinger Hauptstraße, einer tristen Fußgängerzone, davon. Am Meidlinger Platzl wo die Straße endet, steht ein Neungeschosser. Im dritten und fünften Stock laufen zwei rote Transparente um die Balkone, und akkurate weiße Majuskeln befehlen: „Mit Dr. Swoboda macht Europa Zukunft. Am 13. 06. SPÖ wählen.“ Armer Dr. Swoboda. Dem Team des Spitzenkandidaten ist hier nichts anderes eingefallen, als Ostblockwahlkampf zu imitieren. Prag, Breslau, und die Stalinallee in Berlin haben mal so ausgesehen. Das ist vorbei. Doch in Wien-Meidlingen lebt diese Mode fort. Manchmal bewegt sich das alte Europa auf wahrlich seltsamen Pfaden auf die neuen Mitglieder zu.