Italien ist: italienisch

DAS SCHLAGLOCH    von KERSTIN DECKER

Wenn die Italiener so einen wieBerlusconi wählen,ist das gar nicht schlimm

Es ist peinlich, in Italien am Strand zu liegen mit einem Buch, das heißt: „Was ist deutsch?“. Es ist ein besonders kleiner Strand, in einem besonders kleinen Ort, aber weil der Ort so berühmt ist, sind besonders viele Menschen da. Und alle können diesen Titel lesen.

Der Vorteil, im Ausland zu sein, besteht im Allgemeinen darin, sich über die anderen in ihrer Gegenwart unterhalten zu können, ohne fürchten zu müssen, dass sie etwas verstehen. Am Strand von Vernazza habe ich zum ersten Mal das Unglück, ein Amerikaner zu sein, begriffen. Oder ein Engländer. Die sind ja wie aufgeschlagene Bücher. Jeder kann drin lesen. Jeder versteht sie. Das macht sie im Ausland so lächerlich. Das umgibt sie mit dieser Aura einer gewissen Einfalt. Aber mit einem Buch „Was ist deutsch?“ in der Hand ist man fast wie ein Amerikaner. Den Titel übersetzt jeder. Und das gerade jetzt.

Da es eben ein italienisches Fischerdorf ist, fällt man im Augenblick mit einem Buch „Was ist deutsch?“ ganz besonders auf. Ich stelle mir vor, ich hätte dem Drängen eines Straßenhändlers am Comer See nachgegeben, der mir unbedingt „Mein Kampf“ verkaufen wollte. Er schien ein ähnliches Bild des Deutschen zu hegen wie sein Ministerpräsident und dessen Antitourismusstaatssekretär.

Nun hatte ich das neueste Buch von Friedrich Dieckmann schon eingepackt, als unser Bundeskanzler noch dachte, Berlusconi habe sich bei ihm entschuldigt, und darum generös erklärte: Für ihn sei der Fall erledigt. Was für ein Fall? Der „Fall Berlusconi“ etwa? Hätte man damals schon ahnen können, dass der italienische Ministerpräsident etwas dagegen hat, sich zu einem „Fall“ erklären zu lassen. Schließlich hatte die Justiz seines Landes gerade etwas Ähnliches versucht und verloren.

Eigentlich kann man in Vernazza von morgens bis abends nichts anderes machen, als darüber staunen, wie viele Menschen in ein einziges Fischerdorf passen, das genau genommen nur aus einer einzigen Straße besteht. Und einem einzigen Strand. Wahrscheinlich hat der italienische Staatssekretär zur Verhinderung des Tourismus diesen Strand gemeint, als er über „einförmige, supernationalistische Blonde“ sprach als den Heimsuchungen seiner Küsten. Der Strand von Vernazza ist wirklich zu klein. Und ist es denn einzusehen, dass die Italiener nicht mehr an ihre eigenen Strände passen, nur weil da schon Deutsche drauf sind, die Bücher lesen mit Titeln wie „Was ist deutsch?“ Nun könnte die Gemeinde ein Schild aufstellen: „Nur für Italiener“. Und was sollen eigentlich die alten Fischer von Vernazza sagen? Schließlich ist das ihr Dorf. Kein Fischer der Welt wird jemals verstehen, was an einem Fischerdorf attraktiv sein soll.

Kein Fischer der Welt wird jemals verstehen, warum erwachsene Menschen sich an Strände legen, alle nebeneinander, Bauch nach oben wie tote Fische. Strände sind was für Boote. Und wer die Alten ansieht, weiß, dass ihre Fischerseelen uns auch ein ganz klein wenig dafür verachten, dass wir alle herkommen. Das sind die wahren Kulturschranken.

Aber die eigentliche Dramatik der Sache begreift erst, wer versucht, sich einen Italiener vorzustellen, der ein Buch liest „Was ist italienisch?“. In Warnemünde vielleicht, oder auf Sylt. Erstens gibt es solche Bücher nicht in Italien, und zweitens gibt es keine Italiener, die sie lesen würden.

Denn ein Italiener weiß, was italienisch ist, schließlich ist er einer. Formulieren wir also einen Anfangsverdacht: die Italiener sind als Volk noch viel fischerähnlicher als wir. Ein richtiger Italiener ist ein bisschen intolerant. Sagen die Italiener und verstehen die Deutschen nicht, diese Weltmeister der Toleranz. Sobald wir etwas bemerken, das wir nicht kennen, nehmen wir schon mal vorsichtshalber eine Pose der Toleranz ein. Vielleicht, weil wir Angst haben, mit irgendetwas Ähnlichkeit zu haben. Am Ende gar mit uns selbst. Das ist die Umkehrung jedes archaischen Abwehrreflexes. Fremdenfeindlichkeit ist ja ursprünglich nichts anderes als eine Reaktion des Selbstschutzes, weshalb alle alten Kulturen per se fremdenfeindlich sind. Und die Italiener sind es eben noch ein bisschen. Ist nun mal eine sehr alte Kultur.

Fischer sind unglaublich intolerant. Gegenüber allen Nichtfischern, gegenüber dem Meer, gegenüber den Fischern aus den benachbarten Fischerdörfern. Und trotzdem – es stört gar nicht, es fällt nicht mal auf. Natürlich hat die fremde Küche in Italien keine Chance, und den paar Chinesen, die es doch gibt, merkt man an, dass sie hier die Underdogs unter den Gaststätten sind. Sie kochen vor lauter Schreck auch so.

Und die deutsche Frage vor zwei Jahren, ob es in Deutschland eine „deutsche Leitkultur“ geben dürfe, würde ihnen unendlich dunkel bleiben.

Wahrscheinlich sind die Italiener wirklich viel intoleranter als wir, aber dafür sind sie es auf charmante Weise. Und das schon jahrhundertelang. Gibt es etwas Angenehmeres, Souveräneres als den italienischen Umgang mit dem Fremden? Diese freundliche Distanz, diese verbindliche Unverbindlichkeit, die niemals aufdringlich wird. Gut, wenn du da bist, aber wenn du wieder weg bist, ist’s auch gut. Was will der Reisende, der sich immer wieder neu Bindende im Ungebundenen mehr?

Kein Fischer der Welt wird je verstehen,warum erwachsene Menschen sich an Strände legen

Obwohl in diesem Jahr wirklich manches anders ist. In dem Ort am Comer See, wo man auch „Mein Kampf“ kaufen kann, meldete La Provincia, dass die „erste Denunziation“ nun auch den Comer See erreicht hätte: „Rumori e caos notturno“ in Lenno. Deutsche Urlauber wurden mit dem Vorsatz zitiert, den See künftig zu meiden. Ich weiß nicht, was da passiert ist und ob der Vermieter meines Ferienhauses auch La Provincia liest, aber er brachte mittags nun gerade geerntete Möhren, Zwiebeln und soeben gelegte Eier, abends aber den frisch gebackenen Kuchen seiner Frau. Ein Service, den auch in Deutschland bei weitem nicht jeder Hausbesitzer seinen Mietern zuteil werden lässt.

Schon überlegen unsere Feuilletons, auf welchen (Ab-)Wegen in alle möglichen Finsternisse Italien sich befindet. Thomas Manns Am-Vorabend-des-Faschismus-in-Italien-Erzählung „Mario und der Zauberer“ wird heranzitiert, die damaligen Italien-Impressionen des Autors in einer gewagten Operation dem heutigen Kanzler in den Mund gelegt (FAZ), und die Mafia steht überlebensgroß im Hintergrund. Schließlich weiß ja keiner genau, woher Berlusconi, der reichste Mann Italiens, sein vieles Geld hat.

Aber es ist doch so: Wenn die Italiener so einen wie Berlusconi wählen, ist das gar nicht schlimm. Denn sie wissen ja auch so, wer sie sind. Wenn wir aber einen wie Berlusconi wählen würden, wäre das allerdings ein böses Zeichen. Ich lese in „Was ist deutsch?“ die Vermutung, terminologischer Gleichschaltungsdruck könnte etwas spezifisch Deutsches sein. Oder welches Land sonst hätte Sprachregelungen wie „Liebe MitbürgerInnen“ erfinden können? Der alte bürokratische, ästhetisch unempfindliche Geist. Überhaupt dieser deutsche Eifer, alles richtig zu machen, ist er etwa nicht totalitär?