Lusitanisches Karussell

EM-Gastgeber Portugal gilt als Turnierfavorit. Eine mutige Prognose – neigte das Nationalteam des Landes bislang eher zum schönen als zum effektiven Stil. Nun will man endlich gewinnen – allen Selbstzweifeln zum Trotz

AUS LISSABON OLE SCHULZ

Luiz Felipe Scolari wendet seinen Blick gern höheren Dingen zu. „Banditen gehören zum Fußball, Engelchen in den Himmel“, sagte der Trainer, als er noch in Brasilien tätig war. In Portugal ließ sich Scolari nun zu der Bemerkung hinreißen: „Wenn ich keine Fehler machen würde, wäre ich schon im Himmel.“

Sorgenfrei wie im himmlischen Paradies ist seine Situation zu Beginn der Europameisterschaft tatsächlich nicht. Die Ergebnisse bei den Vorbereitungsspielen waren jedenfalls keineswegs überzeugend: Seit Scolari im Januar 2003 das Amt des Nationaltrainers übernommen hat, konnte Portugal in sieben Partien gegen Länder, die sich für das Europameisterschaftsturnier 2004 qualifizieren konnten, nicht ein einziges Mal gewinnen. Immerhin gab es neulich im letzten Testspiel einen 4:1-Sieg gegen Litauen – ein Resultat von begrenzter Aussagekraft, denn die Balten nehmen am Turnier nicht teil.

Die Schuld an den mäßigen Leistungen dem Trainer anzulasten, ist nahe liegend. Manche stoßen sich an Scolaris ruppigem Umgangston, andere am starren 4-4-2-Konzept, mit der „Sheriff Felipão“ seine Seleção (Auswahl) immer auflaufen lässt. Seit Wochen werden Prominente in der Tageszeitung Público gefragt, was sie von Scolari und seiner Arbeit halten – die Urteile sind gespalten. Denn in Portugal weiß man auch, dass Scolari als Trainer Brasiliens vor zwei Jahren Weltmeister wurde.

Die Stimmung ein bisschen aufgelockert hat der Champions-League-Sieg des FC Porto Ende Mai. Doch während der pedantische FC-Porto-Trainer José Mourinho seit Jahren in Ruhe an seinem taktischen Konzept feilen konnte („Diamantformation“), war es für Scolari ungleich schwerer. „Christiano Ronaldo ist für mich ein Unbekannter. Ich habe ihn für Manchester United mehr spielen sehen als hier in Portugal“, schimpfte Scolari unlängst, weil der 19-jährige Hoffnungsträger wegen einer angeblichen Verletzung nicht mit der Nationalmannschaft trainieren wollte. „Ich brauche Spieler“, polterte Scolari, „die genauso scharf darauf sind, für ihr Land aufzulaufen wie für ihren Verein.“

Denn zu gewinnen ist auch den Portugiesen wichtig, zumal ihrem Nationalteam der Makel der Erfolglosigkeit anhaftet – eine Einschätzung, welche die Portugiesen selbst gern pflegen: „Statt zu gewinnen wollen wir schöne Sachen machen“, sagt zum Beispiel die Fußballautorin Leonor Pinhão. Schön, aber brotlos zu spielen, das spiegelt laut Pinhão die Mentalität ihres Landes wider: „Wir haben Schwierigkeiten damit, konkrete Ziele zu verwirklichen, aber dafür haben wir die große Fähigkeit, zu improvisieren.“

Das Lieblingswerkzeug der portugiesischen Fußballer ist dabei der Ball, den sie zum Leben zu brauchen scheinen wie andere Menschen Sauerstoff. Im besten Fall sieht das so wunderbar aus wie beim 3:0 der zweiten Garnitur gegen Deutschland bei der vorigen EM. Die Portugiesen, so der Poet Manuel Alegre, „klammern sich an den Ball und lassen ihn nur los, wenn sie nicht mehr anders können. Dann sind sie der Verzweiflung nahe, rennen los, als hätten sie einen Teil ihres Selbst verloren, und versuchen, das runde Leder wieder zu erjagen.“ Probleme gibt es jedoch, wenn der Ball einmal nicht wie am Schnürchen läuft. Dann kann ein solch trostloses Gekicke herauskommen wie bei der Weltmeisterschaft 2002, als man schon in der Vorrunde ausschied.

Dass die Portugiesen bei einem großen internationalen Turnier auf das Siegerpodest steigen durften, liegt bereits 38 Jahre zurück: bei der WM 1966 in England, als Portugal Dritter wurde. Damals verzauberten Spieler aus den portugiesischen Kolonien in Afrika – allen voran der Mittelfeldstratege Mario Coluna und der pantera negra Eusébio als Torjäger: „Als Kind nannte man ihn ninguém: niemand, keiner. Als er in die Stadien kam, lief er immer noch so, wie nur einer laufen kann, der von der Polizei oder der Armut davonläuft, die ihm auf den Fersen sind. Eusébio: lange Beine, hängende Schultern, trauriger Blick“, schrieb Eduardo Galeano.

Benfica Lissabon, sein Verein, bezahlte Eusébio für seine Dienste über die Jahre derart dürftig, dass er dreimal beim Staatspräsidenten Salazar das Gesuch einreichte, ins Ausland wechseln zu dürfen. Doch der Diktator lehnte stets mit der Begründung ab, Eusébio gehöre dem portugiesischen Volk.

Nach dem Ende der Diktatur durch die Nelkenrevolution 1974 und dem Verlust der afrikanischen Kolonien sollte es schließlich zehn lange Jahre dauern, ehe der portugiesische Fußball auf internationaler Bühne wieder von sich reden machte: Bei der EM 1984 scheiterte die Mannschaft mit dem grandiosen Chalana erst in einem dramatischen Halbfinale an Frankreichs Platini.

Dann wurde Portugal unter Carlos Queiroz 1989 und 1991 Juniorenweltmeister. Es war die Geburtsstunde der „goldenen Generation“ um Luis Figo und Rui Costa. „Der Fußball verschafft uns in Portugal, in einem Land von Individualisten, in solchen Augenblicken eine neue Identifikation“, sagt Manuel Alegre über die große Bedeutung des Nationalteams für das Auswanderungsland Portugal. „Das ist die Gabe der Mannschaft: Sie hat ein emotionales Bindeglied zwischen allen Portugiesen in der ganzen Welt geschaffen.“

Die Spieler der goldenen Generation sind zwar in die Jahre gekommen, aber die anhaltenden Erfolge der portugiesischen Juniorenmannschaften zeugen von der eigentümlichen wie stetigen fußballerischen Qualität des kleinen Landes am westlichen Ende Europas. Auch die portugiesischen Trainer genießen überall in der Welt einen exzellenten Ruf – Artur Jorge etwa ist bei ZSKA Moskau unter Vertrag und Carlos Queiroz war bis Ende Mai Cheftrainer bei Real Madrid. Der höchst gehandelte Senkrechtstarter in der Trainergilde ist aber der Coach des FC Porto, José Mourinho. Anfang Juni hat der streberhafte 41-Jährige seinen neuen Job beim FC Chelsea London angetreten.

In Lissabon ist der zur Arroganz neigende Mourinho zwar weniger beliebt, doch er hat dem Land das Gefühl vermittelt, aus eigener Kraft etwas erreichen zu können. Und das Selbstwertgefühl der Portugiesen ist nicht zuletzt wegen der wirtschaftlichen Krise des Landes angeschlagen. So hoffen viele auf einen ökonomischen Wachstumsschub durch die Europameisterschaft. Der ist schon deshalb um so notwendiger, weil die EM-Ausrichtung mit Kosten von über einer Milliarde Euro mindestens doppelt so teuer wie ursprünglich veranschlagt ist.

Ob die Infrastrukturmaßnahmen und der Bau von sieben neuen Stadien ausreichen, um die Wirtschaft (samt Arbeitsmarkt) anzukurbeln, ist allerdings fraglich. Leonor Pinhão hält die Investitionen für sinnvoll, weil sie sich Portugals Zukunft ohnehin nur als Touristenressort vorstellen kann. Im gleichen Atemzug sagt die Autorin aber auch: „Es ist traurig zu sehen, dass nicht gleichermaßen in den Bildungs- und Gesundheitssektor investiert wird.“

Auf dem Fußballstil eines Landes beruhende Volkscharaktertheorien mögen ausgesprochen fragwürdig sein, beliebt sind sie trotzdem, auch bei den Portugiesen. Sie dienen häufig der nationalen Mythenbildung, und der Fußball dürfte daher ein ergiebiges Feld sein, um die „invention of tradition“ (Eric Hobsbawm) zu studieren – ob man nun das „Wunder von Bern“ als vermeintliche Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland nimmt oder die portugiesische Selbstbezichtigung als unglückliche Verlierer.

Gar von einem „Komplott“ sprach zum Beispiel Luis Figo im Anschluss an das Ausscheiden Portugals gegen Frankreich im Halbfinale der letzten EM, nachdem Zidane einen umstrittenen Handelfmeter in der 113. Minute verwandelt hatte. Die Portugiesen attackierten den Schiedsrichter nach dem Spiel so heftig, dass gleich dreien von ihnen für mehrere Monate untersagt wurde, das weinrote Trikot der Nationalmannschaft zu tragen.

Zu den portugiesischen Mythen aber zählt vor allem das Klischee, das eigene Nationalteam würde mit seinem Kombinationsspiel zwar bezaubern, aber keine Tore schießen. „Wir mögen das Kurzpassspiel“, sagt Leonor Pinhão. „Das ist wunderschön, wenn es funktioniert. Und sieht ähnlich aus wie ein Karussell. Wo es aber traditionell Probleme gibt, das ist auf den letzten dreißig Metern vor dem Tor.“

Mit Pauleta von Paris St. Germain haben die Portugiesen zurzeit immerhin einen Mittelstürmer, dem Tore mit Leichtigkeit zu gelingen scheinen. Und während man früher den Eindruck hatte, die Form der Nationalmannschaft hinge allein davon ab, ob Figos Frisur richtig saß oder nicht, kann Scolari mittlerweile auf einige FC-Porto-Spieler setzen. Die Abwehr um Ricardo Carvalho und Paulo Ferreira gilt als schwer zu überwinden, davor räumt der unscheinbare Costinha alles ab, was ihm in die Quere kommt. Und im Mittelfeld soll der vor zwei Jahren eingebürgerte, aus Brasilien stammende Deco Akzente setzen. „Wir haben nicht nur eine gute Mannschaft“, sagt der FC-Porto-Spielmacher, „sondern auch das gewisse Etwas, das man braucht.“

Vielleicht stimmt das ja. Leonor Pinhão glaubt allerdings weniger, dass man bei den schnell zu Selbstzweifeln neigenden Portugiesen von einem Heimvorteil sprechen könne. „Unsere Fans sind entweder extrem optimistisch – oder extrem pessimistisch, es gibt keinen Weg dazwischen. Sollte die Mannschaft am Anfang schlecht spielen und nicht gewinnen, wird sich eine Art von Kritik durchsetzen, die gar nicht weiterhilft.“

OLE SCHULZ, Jahrgang 1968, Autor aus Berlin, spielt in der taz-Mannschaft und bei Schwarze Lunge Friedrichshain. Bei der EM drückt er den Portugiesen die Daumen – von Kuba aus