Verkrallte Leiberwalzen

Christoph Marthalers „20th century blues“ bei den Theaterformen in Braunschweig

Sakrale Höhe, bankrotte Leere. Ein nur vom Staub noch nicht verlassener Museumssaal: Freigehege der Psychiatrie – für die Opfer des letzen, des massenmörderischsten Jahrhunderts der Menschheitsgeschichte. Deprimierende Erinnerung lässt kaum noch Erwartung zu. Einsamkeitswesen knallen gegen die Wand, purzeln durcheinander, rasseln gegeneinander, verkrallen sich zu Leiberwalzen.

Schaurig ironische Verstümmelungen einstiger Körperaufschwünge. Sinnbilder zerstörter Sehnsucht. Haltlosigkeit. Weswegen die Bühnenfiguren einfach immer wieder umfallen. Die große Verzweiflung wegschlummern wollen. Christoph Marthaler ist beim „20th century Blues“ wieder ganz bei sich. Schwermütiges Körpertheater – als Schauspiel der Lieder.

Zum Finale marschiert die Zukunft auf: Zwillinge wie Klone. Schöne neue Welt der technischen Reproduzierbarkeit. Dazu „Abschied“ aus Gustav Mahlers „Lied von der Erde“. Die Emphase über unseren Planten, „blüht auf im Lenz und grünt“, lässt Marthaler in gedehntem Tempo verdämmern und mit einem Verlöschen des Bühnenlichts kommentieren. Poesie der Ratlosigkeit in einer Kunstform, die der Regisseur „Interieur“ nennt. Das Publikum im Braunschweiger Opernhaus badet Marthaler in Ovationen. Die Staatsoper Hannover wird die Produktion ab 17. Juni ins eigene Repertoire übernehmen. fis