Glücklich werden

Wär man doch ein Gummiball: Als der Sommer begann, wünschte man sich, das Sexuelle würde verschwinden

Immer gibt es plötzlich einen Tag, an dem man denkt, nun ist es wirklich Sommer. Eigentlich ist es erst der Tag danach, an dem dann plötzlich klar ist, dass gestern der Sommer begonnen hat. Keine Ahnung, ob sich das objektivieren ließe; dass der Sommer also da wäre, wenn es soundso warm ist, die Pflanzen in den Blumenkästen soundso aussehen und die Straßen und die Wände der Häuser soundso viel Wärme in sich gespeichert haben, die sie in der Nacht dann abgeben, sodass der leichte Wind, der frühmorgens von draußen kommt, kühler ist als die Wände der Wohnung.

Es ist eher ein retrospektives Gefühl: nicht „Jetzt ist es Sommer“, sondern „Gestern hat der Sommer begonnen“, und gestern ist nun auch schon eine Woche her. In der Nacht, als der Sommer begonnen hatte, war es heiß und ich konnte nicht schlafen. Plötzlich war es schon hell, und der Lärm, der vom Fenster des anderen Zimmers kam, wollte nicht verschwinden. Eben schien er noch Bestandteil eines Traums zu sein, nun nicht mehr. Draußen auf dem Kopfsteinpflaster gab es ein illegales Lasterrennen um fünf Uhr dreißig. Ein niedlicher Gehsteigputztraktor der BSR bürstete den sauberen Bürgersteig. Ansonsten war alles leer. Zweimal fuhr der Orangene jeweils mit triumphierendem Lärm erst über den linken, dann über den rechten Gehsteig des Teilstücks meiner Straße.

Aus dem offenen Fenster im vierten Stock gegenüber schaute ein Mann in dunkler Pyjamajacke bewegungslos auf den wahnsinnigen BSRler, der 42 Minuten sinnlos hin und her fuhr, als hätte ihn seine Freundin verlassen. Müde rauchend vergingen die Morgenstunden. Ich stellte meinen Körper in die Sonne, kaufte eine gut gelungene FR, las in Kafkas „Prozess“ und hätte den BSRler gerne verhaftet. Um neun Uhr drückte die Frau im Spaghettihemd am offenen Fenster gegenüber, triumphierend lächelnd, ihren Jeanspo an den Unterkörper ihres virilen Mannes, der hinter ihr stand. Nachdem sie eine Viertelstunde mit ihrer Sexualität gepost hatten, gingen sie zurück in ihre Wohnung, und ich wünschte mir, dass das Sexuelle verschwinden oder durch rosa Wölkchen ersetzt werden solle, und wäre gerne ein lustig bunter Ball in einem Wandschrank gewesen.

Um elf fuhr ich dann nach Westdeutschland. Wie niedrig dort die Zimmerdecken sind! Wenn man dort ist, scheint einem alles normal zu sein und die eigene Existenzform eher komisch; wieder zurück, ist es entschieden umgekehrt. Wir hatten auf einer Bank im Kurpark in der Sonne gesessen. Die Mutter hatte unaufhörlich geredet. Auf dem Boden hatte stundenlang eine Krähe gestanden, die nicht mehr fliegen konnte. Da sei doch normal, dass unter den paar tausend Krähen hier auch welche wären, die nicht mehr fliegen können, sagte mein Vater, der weniger geworden war, nachdem sie ihn aufgeschnitten hatten.

Bei der Abifeier der Nichte hielt der Deutschlehrer eine Rede, die mit einem Mädchen begann, das auf die Frage, was sie später werden wolle, geantwortet hatte, sie wolle „glücklich“ werden. Später sei sie dann doch etwas anderes geworden. Daraufhin hatten die Verwandten der Abiturienten geschmunzelt. Der nette Flensburger Busfahrer hatte sich später mit einem „Tschüs und winke, winke“ von seinen Fahrgästen verabschiedet. So hatte mein Sommer begonnen. DETLEF KUHLBRODT