Das Drama des Tochterseins

Im Labor der Körpersprachen: Zum dritten Mal hat das Haus der Kulturen der Welt zum Festival „In Transit“ eingeladen. Globalisierung einmal nicht als Cross-over, sondern als Verstärker der Wahrnehmung für die feinen Unterschiede

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Tochter sein: Was ein einfacher biologischer Fakt scheint, wird in der Performance „Jue – Erwachen“ von Gaoyan Jinzi und Luo Lili zu einem lebenslangen Kampf. Gaoyan Jinzi, Erste Tänzerin der Bejing Modern Dance Company, hat das sehr schöne und aufregende Stück zusammen mit ihrer Mutter Luo Lili vor Ort als Auftragsproduktion für das Festival „In Transit“ im Haus der Kulturen entwickelt und damit das Versprechen des Festivals, sowohl biografische Geschichte als auch kulturelle Zeithorizonte in der Prägung des Körpers erfahrbar zu machen, auf das Allerbeste eingelöst. Ein Glücksmoment, von dem sich die Veranstalter für das Risiko belohnt fühlten, nicht nur fertige Produktionen einzuladen.

Was für eine Zartheit der Linien, was für eine Transparenz des Körpers: Von Anfang an ist die Spur, die Gaoyan Jinzi so filigran und doch so präzise in den Raum schreibt, von einer Spannung gefüllt, die auf die Arbeit an einem Widerstand verweist. Der Gegensatz ihrer Bewegungssprachen scheint anfangs klar: die definierte und codierte Form der Tradition aufseiten der Mutter, ein expressives Anbranden und Nach-Freiheit-Ringen dagegen der Tochter. Dieser eindeutige Widerspruch aber ist nur der erste und einfachste Teil der Geschichte. Viel schwerer wird sie, als beide im Unterschiedlichen die Ähnlichkeiten entdecken. Die Mutter scheint der Tochter immer einen Schritt voraus, obwohl die Tochter stets viel mehr aufbietet; doch je mehr sie sich wehrt, Kopie zu werden, desto größer wird ihre Bewunderung für die Souveränität der Mutter, die sich scheinbar an nichts messen muss. Diese leidenschaftliche Auseinandersetzung treibt Gaoyan Jinzi an wie ein Feuer, das sich selbst verzehrt.

Unterstützt wurden die beiden Tänzerinnen von der außerordentlichen Komponistin Liu Sola, die zwischen traditionellem chinesischem Gesang und Passagen aus bloßen Schmatz- oder Hauchlauten eine bei aller Fremdheit anrührende Musik entwickelt hat. Sie trat schon letztes Jahr einmal im Haus der Kulturen der Welt auf. Trotzdem werden wohl nur Insider der chinesischen Avantgarde ihren Namen kennen. Wie überhaupt das Publikum des hochkarätig besetzten Festivals meist in verschiedene Spezialistenkreise zerfällt.

Dabei machten die Künstler es einem diesmal einfach. An die Stelle des Hybriden, das „In Transit“ in den ersten beiden Jahren geprägt hat, rückten oft deutlichere Orts- und Zustandsbeschreibungen. Globalisierung einmal nicht als Cross-over und Stilmix, sondern als Verstärker der Wahrnehmung für die Unterschiede: So zeigten die Compagnien Tché Tché (Elfenbeinküste) und Kongo Ba Teria (Burkina Faso) in ihrer ersten gemeinsamen Arbeit hinreißenden afrikanischen Tanz. Ihr Stück „Verschmelzungen“ war mehr aus dem Ritual und der Transformation in verschiedene Zustände des Körpers als aus der Form entwickelt und dabei offen für viele Veränderungen und witzige Verfremdungen. Sie ließen ein langsames Einbuchstabieren in die fremde Körpersprache zu, ohne in Klischees stecken zu bleiben.

Eine Uraufführung zeigte auch die argentinische Modern-Dance-Choreografin Roxana Grinstein: entwickelt aus einem scharfen Tango und mit vielen grotesken Abweichungen spielend. Wie übersteuerte Puppen, deren Motor auf Hochtouren rast und sie dabei in selbstzerstörerische Wiederholungen treibt, agierten zwei Paare in einem Stück über gescheiterte Versuche der Gemeinsamkeit. Das war unterhaltendes Tanztheater, temporeich und witzig, mehr nicht. Schließlich kann man nicht oft erwarten, was den chinesischen Performerinnen gelungen war: auf ein vertrautes Thema aus ihrer Kultur heraus einen Blick zu werfen, der fast für jeden eine neue Erzählung auch über die eigenen Identität entstehen lässt.

„In Transit“ läuft noch Samstag und Sonntag, www.in-transit.de