Der Welterklärer

Fischer schwört jetzt auf ein großes Europa, inklusive Türkei, als Antwort auf den islamistischen Terrorismus „Wir leben nicht mehr in den 90er-Jahren. Begreift das doch endlich“, ruft Fischer in den Saal

VON JENS KÖNIG

Ach ja, der große Welterklärer Joschka Fischer wird wieder einmal von niemandem so richtig verstanden. Aber es ist ein großes Vergnügen, ihm dabei zuzuschauen, wie er, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen, die Frage zu beantworten versucht, warum das bloß so ist – dass er allen ein Rätsel aufgibt. Fischer zieht seine Augenbrauen hoch, bis kurz unter die Decke des Zugabteils, wobei seine Stirn grabentiefe Falten wirft, dann hebt er die Arme neben seinen Kopf und schiebt beide Schultern nach oben. Seinem Mund entweicht ein langes Pfffff. Für die Exegeten von Fischers Verhaltensauffälligkeiten lässt diese ausladende Geste eine präzise wörtliche Übersetzung zu. Was weiß ich, will Joschka Fischer damit sagen, sie haben wahrscheinlich nicht begriffen, wie radikal sich die Welt in den letzten Jahren verändert hat.

Also alles wie immer.

Fischer hat ein neues Großkonzept entworfen. Er schwört jetzt auf ein starkes Europa, das fähig sein muss, gegen den Terror zu kämpfen. Ein großes Europa, das die Türkei mit ins Boot holt, gewissermaßen als Antwort auf den islamistischen Terrorismus. Ein einiges Europa, das keinen Kern und keine Peripherie mehr kennt. Ein selbstbewusstes Europa, das seine Identität nicht durch Abgrenzung von Amerika gewinnt. Europa als eine sanfte Weltmacht also.

In Berlin sieht Fischer seitdem nicht nur in das ratlose Gesicht des notorischen Neidhammels Friedbert Pflüger von der CDU, sondern auch in das seines Chefs Gerhard Schröder, der ja nach sechs Jahren als Kanzler auch einiges von Außenpolitik versteht. Aber der Unverstandene wird die Unwissenden von ihrer Ratlosigkeit schon noch befreien!

Fischer lässt die Arme wieder sinken. Der ICE rast von Stuttgart nach München. Plötzlich springt der Außenminister in seinem 1.-Klasse-Abteil auf, zieht einen kleinen Laptop aus der braunen Aktentasche, klappt ihn auf und schiebt ihn quer über den Sitz. Fischer versucht so lässig wie möglich zu gucken. Vor einem liegt jetzt sein ganzer Stolz – sein neues Buch. „Die Rückkehr der Geschichte“ soll es heißen und sich mit der „Welt nach dem 11. September aus der Sicht des alten Europa“ beschäftigen, wie es im Untertitel heißt.

Rund 130 Seiten hat Fischer schon geschrieben, zwei Kapitel fehlen noch, bis Juli soll das Buch fertig sein. Beim schnellen Durchblättern der Seiten springen einem nur die Überschriften ins Auge, von denen eine „Hobbes vs. Kant?“ lautet, womit schon angezeigt ist, worum es in dem Werk geht: ums große Ganze. Um den Terror. Um die arabische Welt. Um Europa. Um Philosophie. Also auch um Joschka Fischer. Um all das, was in seinem Kopf so herumspaziert.

Fischers Kopf ist nicht zu beneiden. Die großen Probleme dieser Welt sind bei ihm eingezogen. Er wälzt sie in einem fort. Er nimmt sie auseinander und setzt sie neu zusammen, immer und immer wieder. Seine Nahrung ist ein Globus voller Kriege und Krisen. Seinen Hunger nach neuen Ideen stillt er überall: bei der Zeitungslektüre am Morgen, bei Gesprächen mit Powell in Washington und Scharon in Tel Aviv, beim Diskutieren mit Journalisten, beim Zappen durchs abendliche Fernsehprogramm, beim Bücherstudium in der Nacht. Alles Material. Sein Kopf frisst es in sich hinein, verarbeitet es und spuckt es alle paar Monate als neueste Joschka-Fischer-Theorie vom ultimativen Lauf der Geschichte wieder aus.

Auf diese Art und Weise versucht der Außenminister, die Welt und sich selbst in den Griff zu bekommen. Sein Kopf ist das Einzige, worauf er sich verlässt.

Aber manchmal reicht das eben nicht. Fischer neigt zur großen Geste und zur düsteren Vorhersage. Schon als Kind habe ihn die Hölle mehr interessiert als der Himmel, behauptet er. Das ist bestimmt gelogen. Aber es ist eine schöne Fischer-Lüge.

Vor acht Wochen hat er in zwei großen Interviews wieder weit ausgeholt. Er hat die „strategische Dimension“ Europas ausgerufen und den großen, historischen Bogen geschlagen. Diesmal vom 9. 11. 1989 hin zum 11. 9. 2001. Kampf gegen den Terror, Lösung der asymmetrischen Konflikte, Überwindung der Modernisierungskrise in der arabischen Welt – diese Herausforderungen sollte Europa plötzlich nur noch als eine Großunion unter Einschluss der Türkei bestehen können.

Das kleidete Fischer in bedeutende, luftige Worte und nannte es die „Rekonstruktion des Westens“. Man kann sich ganz gut vorstellen, wie Schröder mit den Augen gerollt hat, als er von Fischers neustem Ausflug ins Visionäre erfuhr. Der Kanzler ist ein Augenblicksmensch. Er macht Außenpolitik aus dem Bauch heraus, pragmatisch, breitbeinig, niedersächsisch, am liebsten unter vier Augen. Einst Fischers Avantgarde-Europa, jetzt seinen demonstrativen Verzicht auf ein Europa der zwei Geschwindigkeiten – beides hält Schröder für überzogen. „Kerneuropa“ sei zwar keine strategische Vorstellung, ließ er seinem Außenminister per Interview kühl mitteilen, aber doch die zwangsläufige Konsequenz der EU-Erweiterung.

Weil sie den Außenminister nicht verstanden, rätselten alle, was ihn getrieben haben könnte. Seine Pläne als europäischer Chefdiplomat? Die Konkurrenz zu seinem Außenkanzler? Seine versteckte Liebe zu den Amis?

Von Fischer sagt man, dass er sich nur für zwei Sachen wirklich interessiert: für die Geschichte und für sich selbst. Wenn das stimme, meint einer von seinen wenigen Vertrauten – der wie alle dieser Auserwählten seinen Namen natürlich nicht in der Zeitung lesen möchte –, dann habe Fischer sich in diesem Falle für die Geschichte interessiert. Für den Lauf der Welt nach dem Terroranschlag von New York. Europa sei in Fischers Augen bereits einen Tag nach diesem Attentat auseinander gefallen, am 12. 9. 2001, getrieben von den alten nationalen Reflexen. Unter Qualen habe er die Spaltung Europa im Irakkrieg erlebt, vor allem das Ausscheren der Polen.

Als traue er ihm selbst nicht ganz über den Weg, fügt der Vertraute ungefragt hinzu, Fischers eigene Karrierepläne in Europa, wenn er sie denn überhaupt je ernsthaft betrieben habe, hätten bei seinem Umdenken keine Rolle gespielt. Der Pate der Grünen habe längst ganz anderes im Blick. 2006 mit Schröder noch mal zu gewinnen und die Ehre der rot-grünen Generation zu retten – das sei sein großes Ziel.

Eine Nummer kleiner geht bei Fischer nie. Dafür hat sich der Obergrüne erneut in seinen Joschka-Fischer-Angeberbus sperren lassen. Zehn Tage reist er im Europawahlkampf kreuz und quer durch die Republik. Das kommt ihm natürlich nicht ganz ungelegen. Fischer wählt bei seinen Metamorphosen ja immer die gleiche Tour: Erst verabschiedet er sich von seiner Position innerlich, dann überzeugt er sich selbst von seiner neuen Idee und schließlich sein Publikum.

Jetzt steht der Herr Außenminister im Saal der Evangelischen Paulusgemeinde in Freiburg und gewährt seinen Zuhörern Einblicke in seine aktuelle Gedankenwelt. „Der jordanische König Abdullah hat neulich eine beeindruckende Rede gehalten und festgestellt, dass die Hälfte der arabischen Bevölkerung unter 18 Jahre alt ist“, erzählt Fischer. Er hebt den Zeigefinger. Diese jungen Menschen, fährt er fort, müssten an der Globalisierung gleichberechtigt teilnehmen können. Sie brauchten Entwicklungschancen. Bekämen sie die nicht, ließen sich viele von ihnen vom Terror verführen. „Das sind die entscheidenden Fragen für die Zukunft unserer Welt“, sagt er leise.

Holla, denken viele im Saal, reiben sich die Augen und klatschen Beifall. Joschka Fischer, König Abdullah und die politische Gestaltung der Globalisierung? Das ist eine Mischung, die für die meisten hier gewöhnungsbedürftig ist. Die Probleme der Globalisierung waren bisher ja eher bei Attac als beim grünen Außenminister aufgehoben.

Aber Fischer ist noch nicht fertig mit dem Aufbau seines neuen, wuchtigen Gedankengebäudes. „Der Terrorismus stellt eine neue totalitäre Bedrohung dar“, sagt er. Und seine Antwort auf diese Bedrohung besteht aus drei Teilen: Erstens Europa. Zweitens Europa. Drittens Europa. „Ohne Europa sind die internationalen Fragen nicht zu lösen.“

Die Ersten im Saal werden unruhig. „Die Amis sind das größte Problem“, rufen plötzlich einige Studenten.

„Mit Antiamerikanismus seid ihr bei mir an der falschen Adresse“, antwortet Fischer genüsslich. „Die großen Konflikte dieser Welt sind nicht ohne die USA zu lösen. Was glaubt ihr, was passiert, wenn sich diese Macht zurückzieht?“ Schweigen.

„Es gibt Frieden und Freiheit!“, ruft plötzlich einer von hinten.

„Von wegen“, keilt Fischer zurück. „Sag das mal den Menschen in Madrid. Was willst du denn mit Leuten machen, die kaltblütig morden? Therapeutische Gespräche führen?“ Der Außenminister wirft sich endgültig in die Pose des großen Weltdeuters. „Wir leben nicht mehr in den 90er-Jahren. Begreift das doch endlich.“

Nach anderthalb Stunden ist die Führung durch Fischers Gedankenwerkstatt beendet. Der Saal tobt vor Begeisterung. In Stuttgart, München, Jena, Erfurt – überall wiederholt sich das Spektakel. Seine neue Ideen kommen irgendwie genauso gut an wie seine alten. Fischers Fähigkeit, sein Publikum von fast allem zu überzeugen, auch von dessen Gegenteil, scheint ungebrochen. Vielleicht glauben die Leute aber auch einfach nur, dass da einer ist, der sich in der wachsenden Unübersichtlichkeit einfach besser zurechtfindet als sie selbst.

Joschka Fischer jedenfalls gibt ihnen das Gefühl. Das beruhigt. Auch ihn selbst.