Mast runter,

Blaumeier performt, Piraten grölen, Scherf isst Fisch: Bremens Hoffnungen nehmen Kurs auf Berlin

Vor dem Rathaus steht ein Piratenschiff im Bollerwagen-Format. Und da in einer werdenden Kulturhauptstadt selbst die Piraten feinsinnig sind, vertreiben sie sich die Zeit mit traurigen Liedern. Sie jammern, dass sie an Land versauern müssen, und der ausgestopfte Schädel am Bug nickt traurig dazu. Lange wird der beklagenswerte Zustand nicht mehr dauern. Denn sie gehören zur Kogge-Mannschaft, die gleich aufbrechen soll, um Bremens Kulturhauptstadt-Bewerbung in Berlin abzuliefern.

Auf dem Domshof konkurrieren Brot und Spiele, Fressbuden und Kulturhäppchen. Japanische Touristen und Bremer Bratwurst-Kauer schauen vorsichtig-amüsiert herüber, während Mitglieder des Jungen Theaters, der Shakespeare Company und des Blaumeier-Ateliers unter allerlei Spektakel die (Ober-)Bürgermeister Henning Scherf und Jörg Schulz erwarten. Mit Käpt’n Blaumeier an der Spitze setzt sich der Zug dann in Bewegung – mitten durchs Rolandfest-Gedrängel. Ein Fan an der Fischbude schenkt dem Bürgermeister Wegzehrung. Während Shakespeare plaudert, Blaumeier performt, Piraten grölen, schlabbert Scherf souverän den Fisch aus der hohlen Hand. Am Straßenrand diskutieren die Expertinnen noch, als er knapp vorm Ziel die letzte Gräte abschleckt: „Räucherhering? — Ne, Matjes!“ „Der kann immer essen“, lästert der Bremerhavener Kollege.

Schlecht sichtbar für das Volk am Ufer, kommt es auf dem abgesperrten Martinianleger zu einem ersten Höhepunkt des Tages. Die Bewerbungsschrift der Kulturhauptstadt in spe wechselt ihren Besitzer: Heller zu Scherf, Scherf zu Blaumeier. „Das ist das Bedeutendste, was Bremen zurzeit zu bieten hat“, sagtMartin Heller, der künstlerische Leiter der Kulturhauptstadt-Bewerbung, über die schätzungsweise zwei Kilo Buch. Auf einer Sänfte – dass sie ein wenig an eine Tragbahre erinnert, wollen wir gar nicht sehen – schleppen zwei Maskenträger die Schatztruhe mit der Schwarte an Bord.

Die ersten Tropfen fallen. Ein Eisentreppchen hoch, dann ein großer Schritt über die Reling, und schon steht ein Kulturschaffender nach dem anderen auf den kaum schwankenden Planken. Ein begeisterter Aufschrei geht durch die Schiffspassagiere, als es wie aus Kübeln losschüttet: „Das ist richtig bremisch!“ „Taufe muss sein!“ Kapitän Dieter Stratmann versucht vergeblich, die „Weicheier“ auszumachen und vom Schiff zu sticheln. Kein Etepetete-Regenschirm weit und breit, sportlich-wetterfeste Kapuzen werden über die Köpfe gezogen. Alle bleiben.

Gaaanz langsam wird der Mast gesenkt, um die Bremer Brücken passieren zu können. Als Henning Scherf die Leinen lösen darf, lichtet sich die Wolkendecke schon wieder. Ein Trompetensolo, Henning schwenkt sein riesiges Taschentuch, die Piraten singen schon mal hoffnungsvoll Rio Reisers „Land in Sicht“ – dann legt die Kogge ab. Der Blick wird frei auf das riesige Transparent am anderen Ufer, auf dem die PDS „Schluss mit dem Kulturabbau“ fordert. Annedore Beelte